Mira und die verwunschenen Kugeln (German Edition)
mit einer einzelnen weißen Feder, aber der Rabeus, den sie kannte, wäre verschwunden. Er hätte sich aufgelöst, wie so viele der anderen weißen Zauberer, die die schwarze Hexe so unerbittlich verfolgte.
Mira hatte keine Ahnung, wie sie ihrem Freund helfen konnte. Ihr Herz wurde schwerer und schwerer mit jedem Schritt, den sie in der Finsternis tat.
Vorsichtig kroch und krabbelte sie den steinigen Weg entlang. Bis auf den Fluss, der hinter der dicken Mauer rauschte, konnte Mira nur ihren eigenen Atem hören.
Wieder stieß Mira vor sich auf die Mauer und wieder verfingen sich ihre Finger in den klebrigen Spinnweben. Mira war erstaunt. Der Weg war ihr diesmal viel kürzer vorgekommen als beim ersten Mal. Hoffentlich öffnete sich auch diesmal wieder die Tür!
»Zeit«, sagte sie laut und deutlich. Dann – nachdem eine halbe Minute schier unerträglichen Wartens vergangen war – schob sich die Mauer mit einem Seufzen zur Seite und Mira stolperte blind wie ein Maulwurf in den Keller der schwarzen Hexe.
Nur ein wenig Mondlicht drang durch ein vergittertes Kellerfenster und durch die Ritze über der Tür. Mira sah an sich herunter. Sie triefte vor Nässe und schauderte vor Kälte. Hinter ihr schloss sich mit einem dumpfen Luftzug die Tür des Rätselgangs. Genau jetzt musste sich auch die Tür am anderen Ende des Gangs wieder öffnen. Ob ihre Verfolger wohl noch in der unterirdischen Halle standen? Und wussten sie die Lösung des Rätsels?
Sie sollte sich beeilen. Mira ging quer durch den Keller und lehnte sich an das Türblatt.
»Hallo«, flüsterte sie. »Hörst du mich?«
»Natürlich«, murmelte eine vertraute Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Bringst du mir Nachricht von meiner Najade?«
»Nein!«, erwiderte Mira beschämt. Sie hatte gar nicht mehr an die Meerjungfrau gedacht. »Ich habe sie leider noch nicht gefunden.«
Es entstand eine kurze Stille.
»Warum bist du dann hier?«, fragte der Zwerg.
»Die schwarzen Zauberer sind hinter mir her, weil sie denken, dass ich die Kugeln gestohlen habe«, erklärte Mira. »Außerdem weiß ich endlich, wo diese blecherne Krähe sitzt. Direkt über uns, auf diesem Haus.«
»Dann ist das wohl die einzige Figur, die die schwarze Hexe nicht mitgenommen hat.« Die Stimme des Zwergs drohte zukippen. »Oh, oh, meine Najade, sie hätte sie mir lassen können.«
»Ich weiß, ich weiß«, flüsterte Mira schnell. »Hör zu! Du musst mir helfen! Das Silbermännchen sagte, es gäbe eine geheime Verbindung zwischen diesem und dem Haus mit dem runden Fenster. Aber ich habe keine Ahnung, wo der Eingang dazu ist.«
»Wer ist denn das Silbermännchen?«, fragte der Zwerg.
»Es ist ... es war ein Geistwesen«, murmelte Mira und fühlte sich mit einem Mal sehr traurig.
»Na, das muss es natürlich ganz genau wissen«, erwiderte der Zwerg. »Also zumindest in diesem Keller gibt es keinen Geheimgang. Unterirdische Gänge sind meine Spezialität. Immerhin bin ich ein Zwerg.« Letzteres sagte er mit großem Stolz, und Mira verkniff sich zu fragen, warum er sich dann in dem Gang dauernd beschwert hatte.
»Ich nehme an, dass dir dieses Geistwesen weiter nichts Nützliches erzählt hat?«, fragte der Zwerg nach einer Weile. Es klang ein bisschen so, als hielte er nicht viel von Geistwesen.
Mira überlegte. Ja, da war noch was!
»Er hat mir noch etwas Seltsames zugeflüstert. Er sagte, ›Die Antwort auf Tempus fugit heißt Amor manet‹. Was auch immer das bedeuten mag.«
»Na ja, das ist ... zumindest mal ... sehr romantisch!«, brummte der Zwerg.
»Wieso?«
»Du hast das nicht verstanden?«
Mira schüttelte den Kopf, bis ihr einfiel, dass der Zwerg sie ja nicht sehen konnte. »Nein, woher denn?«, sagte sie schließlich.
» Tempus fugit heißt: Die Zeit vergeht .«
»Und was ist daran romantisch?«
»Romantisch ist der zweite Teil. Amor manet heißt: Die Liebe bleibt .«
»Die Zeit vergeht, aber die Liebe bleibt«, murmelte Mira. Meinte das Silbermännchen damit die schwarze Hexe und den Drachen? Aber warum hatte es ihr das gesagt? Vielleicht war das das Ende der Geschichte? Je mehr sie nachdachte, desto vertrauter erschienen ihr diese Worte. Als ob sie sie schon einmal irgendwo gelesen hätte.
TEMPUS FUGIT.
Ja, sie hatte diese Worte schon einmal gesehen.
Klein und eingeritzt in einer Wand.
»Das ist es!«, rief Mira plötzlich.
»Was denn?«, brummte der Zwerg.
»Ich muss in die Dachkammer«, antwortete Mira. »Und wenn ein schwarzer Zauberer nach mir
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