Mira und die verwunschenen Kugeln (German Edition)
Der Zug fuhr an hohen Laubbäumen vorbei und verlor sich dann zwischen dunklen Tannenwäldern, die ihn fast verschluckten. Einmal meinte Mira, hinter den Zweigen das alte, windschiefe Häuschen der Hexe Fa entdeckt zu haben, doch das Laub wardicht und der Zug fuhr schnell, und Mira war sich nicht sicher, ob sie es wiedererkennen würde.
Kurz vor Schwarzburg überquerte der Zug eine alte Eisenbahnbrücke, und Mira erblickte unter sich den langen, grünen Fluss, der nun viel Wasser führte. Es hatte tagelang geregnet und von den Bäumen am Ufer ragten nur noch die Kronen aus dem Wasser. Mira fühlte einen Stich im Herzen. Wie ging es Miranda und Rabeus? Wie sollte sie sie wiederfinden?
Und was wäre – und diesen Gedanken wagte Mira gar nicht zu Ende denken –, wenn ihren Freunden etwas zugestoßen war und sie zu spät kam? Mira seufzte so laut, dass die Frau, die ihr gegenübersaß, ihr Strickzeug sinken ließ und sie für einen Moment durch ihre eckige Brille neugierig musterte.
Der Schwarzburger Bahnhof war leer, als Mira ausstieg, und erst nach einer Weile entdeckte sie ihre Großtante, die mit energischen Schritten auf dem Bahngleis auf und ab ging. Mira hob vorsichtig die Hand, um ihr zu winken.
Man konnte nicht gerade sagen, dass Tante Lisbeth besonders begeistert aussah, als sie Mira endlich entdeckte. Ihre Lippen bildeten einen schmalen Strich in dem hageren Gesicht, und über ihren Augenbrauen zeigte sich eine scharfe, klare Ärgerlinie, während sie auf Mira zumarschierte.
»Hallo, Tante Lisbeth«, sagte Mira und schluckte. Tante Lisbeth sah Mira eine Weile an und sagte – nichts. Sie nahm Miras großen blauen Koffer.
»Gehen wir!«, brummte sie schließlich und deutete auf das Ende des Bahnsteigs.
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Bald lag rechts von ihnen die Altstadt mit ihren verwinkelten Gassenund kleinen geduckten Häusern. Mal war das dunkle Wasser des Flusses zu sehen und zog eilig dahin, eingebettet in einen bemoosten Kanal, dann verschwand es wieder, um unter der Erde weiterzufließen.
Ein riesiges Wassernetz kam Mira in den Sinn. Für einen kurzen Moment stellte sie sich schwarze Adern vor, die unter all den Straßen und Häusern dahinzogen, und sie fröstelte trotz der Sonne, die vom Himmel stach. Mira starrte auf ihre schmutzigen Turnschuhe, die versuchten, mit den beigefarbenen Bequemschuhen Tante Lisbeths Schritt zu halten. Ob die schwarze Hexe noch in ihrem Haus in der Silbernen-Fisch-Gasse wohnte? Und gab es den Blauen Pfau noch? War Hippolyt für immer aus der Stadt geflohen oder steckte er hier noch irgendwo im Gewirr der Häuser? In einiger Entfernung ragte hinter den Dächern, die weiß in der Sonne glänzten, die alte Burg auf. Hier hatte ihr Abenteuer begonnen. Wusste Herr Sperling, dass sie ihm ein altes Buch geklaut hatte, das zu den wertvollsten Büchern der Zaubererwelt gehörte?
»Mira! Trödle nicht so herum!«
Die Tante riss Mira aus ihren Überlegungen. Sie bogen in die Wohngegend ein, in der Tante Lisbeths ordentliches Haus stand. Hier sahen alle Häuser gleich aus, und Mira war froh, dass wenigstens die Garagenhäuschen unterschiedliche Farben hatten, denn sonst hätte sie sich niemals zurechtgefunden. Am Eingang zu Tante Lisbeths Straße waren die Tore der Garagen blau, und unter einem großen Ahornbaum stand immer noch die alte Tischtennisplatte, an der sich Mira einst mit Miranda getroffen hatte.
Diesmal saßen dort allerdings zwei andere Mädchen im Schatten. Sie schienen nicht älter als Mira zu sein. Das kleinereMädchen hatte eine lange, spitze Nase und braune Haare und sprach mit einem auffallend hübschen Mädchen mit langen blonden Zöpfen, das sich erhob, als Tante Lisbeth mit dem Gepäck um die Ecke kam. »Guten Tag, Frau Karg«, sagte sie und lächelte Tante Lisbeth strahlend an, während das andere Mädchen Mira mit lauerndem Blick musterte.
Tante Lisbeth sah die Kinder kurz an und nickte hastig. Dann ging sie mit gesenktem Kopf weiter – schneller noch als zuvor. Als sie vor dem Eingang zu Tante Lisbeths Haus standen, hörte Mira ein leises Kichern aus der Ferne. Sie drehte sich um und sah, wie das blonde Mädchen dem dunkelhaarigen etwas zuflüsterte.
»Diese Gören«, murmelte Tante Lisbeth, als sie Miras schweren blauen Koffer auf dem Dielenboden absetzte und die Haustür hinter sich mit einem lauten Knall zuschlug. Mira hängte ihre Jeansjacke an einen Garderobenhaken neben dem großen Wandspiegel und folgte Tante Lisbeth
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