Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
hinunterzustürzen.«
»Jetzt macht Ihr Euch etwas vor, Bombo. Wenn einem der vergorene Hopfensaft zu Kopfe steigt, dann sieht man, wie Ihr ganz richtig bemerktet, doppe l te Bilder, aber nicht zwei unterschiedliche, wie es uns allen hier am Tisch ergangen ist. Ergil und Twikus sind Sirilim - Zwillinge. Nichts Ungewöhnliches, wenn man bedenkt, wer ihre Mutter war.«
»Unglaublich!«
»Aber es ist die Wirklichkeit. Wacht endlich auf, Bombo. Hier geht es nicht um Eure persönliche Genugtuung oder nur die Sicherheit des Stromlandes. Wenn unser Unternehmen scheitert, dann versinkt ganz Mirad in Finsternis. Wollt Ihr unter diesen Umständen Torlunds Erben tatsächlich Eure Hilfe abschlagen ?«
Der kleine Pirat blickte grimmig in die entschlossenen Gesichter am Tisch. Kaum ein anderer wusste so gut wie er, auf was für ein Unternehmen er sich da einlassen sollte. Er schob unwillig seinen Humpen zur Seite, holte tief Luft, schüttelte den Kopf, a tmete schwer wieder aus und sagte:
»Also gut. Ich bringe euch zum Sternenspiegel. Unter einer Bedingung.«
Múrias feine Augenbrauen hoben sich. »Ja?«
»Meine Männer müssen diesem Wahnsinn zustimmen.«
14
MEERSCHAUMKÖNIGIN
Die nächste Begegnung mit den S pitzeln Hjalgords werde möglicherweise weniger glimpflich verlaufen als die Hatz durch Seltensunds Gassen, hatte Bombo prophezeit. Falgon, Múria und Dormund stimmten ihm zu; auch sie verfügten über einschlägige Erfahrungen im Umgang mit Wikanders Helfersh e lfern. Schekira und die Zwillinge vertrauten sich der Urteilskraft ihrer Freunde an. Die Einhelligkeit bedeutete für alle eine viel zu kurze Nacht.
Ohne die Stadt der immer scheinenden Sonne noch einmal zu betreten, machte man sich im ersten Licht des Morgens auf den Weg. Der Himmel hatte die Farbe von Schiefer und daran sollte sich im Verlauf des Tages wenig ändern. Bombo begleitete die Gefährten beim Aufstieg durch die Gischt der zwölf Katarakte. Der Kapitän war untröstlich ob seines vorabendlichen Misst r auens gegenüber den Prinzen. Er entschuldigte sich, rechtfertigte sich, entschuldigte sich abermals, plädierte auf Freispruch und bat erneut um Verzeihung. Erst als Ergil das Gespräch übernahm, konnte er den verzweifelten Mann beruhigen.
Danach trennte man sich. Bombo ritt auf seinem Maulesel weiter stromaufwärts. Er musste die Mannschaft des Piratenschiffes seelisch auf den Tag der Entscheidung und den Segler für die Reise vorbereiten. Múria gab ihm zweiundsiebzig Stunden Vorsprung.
Alsdann führte sie ihre Begleiter zur Seeigelwarte hinauf.
Dort wurden sie bereits von Gonther erwartet, einem wohl an die siebzig Jahre alten, jedoch äußerst rüstigen Greis, der ihr in mancherlei Dingen zur Hand ging. Sie hatte ihm eine schriftliche Nachricht hinterlassen, damit er sich keine Sorgen mache.
Gonther war ein hochgeschossener, sehniger Mann mit dichtem, grau meliertem Haar, gutmütigem Gesicht und großen rehbraunen Augen. Den kühlen Bergwinden trotzte er mit erstaunlich leichter Bekleidung. Er trug ein dünnes Hemd aus naturbelassenem Leinen, Hosen und Weste aus grober erdfarbener Wolle, aber keine Schuhe. Seine runzeligen Hände, die er den Gästen herzlich entgegenstreckte, waren trotzdem warm und zudem voller Leberflecken.
»Holst du neuerdings deine Kranken persönlich aus der Sonnenstadt ab, kleine Mutter?«, scherzte er.
Twikus fand die Form der Anrede mehr als merkwürdig. Múria sah mindestens dreißig Jahre jünger aus als der Greis. Ihr schien es sogar zu gefallen. Sie lachte. Danach stellte sie ihre Begleiter als »alte Freunde« vor und fügte dann noch hinzu: »Wir werden in drei Tagen eine längere Reise antreten, mein Lieber. Bis dahin gibt es noch einiges zu besprechen und manche s z u tun.«
So kam es dann auch. Die Zeit für die Vorbereitungen wurde am Ende sogar knapp. Nicht, weil die Zusammenstellung des Gepäcks unlösbare Probleme aufwarf, sondern weil Múria eine Unmenge von Briefen schrieb, die sie im frühen Morgengrauen des vierten Tages Gonther übergab.
»Sende sie auf den geheimen Routen an unsere Mitstreiter. Die Nachrichten mögen ihnen Hoffnung geben.«
Erst jetzt bekam Twikus eine ungefähre Vorstellung davon, warum Múria ihr Haus eine Warte nannte. Der Seeigel war nicht allein Beobachtung s - und Zufluchtsstätte, er diente ihr auch als Meldeposten für Botschaften in d ie ganze Welt. Diese wunderschöne, uralte, unergründbar weise Frau verkörperte den Dre h - und
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