Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Felsvorsprung bot den Gefährten Schutz vor dem eisigen Wind. Die Nacht war sternenklar, aber bitterkalt. Trotzdem hatte man nicht gewagt, ein Feuer zu entzünden.
»Ich kenne Hjelp noch gut von früher«, erklärte der Schmied mit trauriger Miene. »Es war ein lebhafter Marktflecken. Jetzt ist alles nur noch grau: die Straßen, die Häuser, die Gesichter der Menschen. Wikander verlangt hohe Abgaben und seine Steuereintreiber sind erbarmungslos. Wenn einer nicht zahlen kann, dann nehmen sie ihm die karge Ernte des kurzen Sommers oder das Vieh und allzu oft auch die Söhne, um sie in die Armee des Großkönigs zu stecken. Man hasst ihn. Ich konnte es in den Augen der Männer und Frauen sehen. Aber niemand wagt es, das Wort gegen den König zu erheben.«
Falgon zupfte an seinem Kinnbart herum. »Hast du etwas über das Stromland erfahren, Dormund?«
»Ja. Vom Schankwirt. Sein Vetter lebt in Neu - Seltensund. Es hat nicht nur hier, sondern auch in König Hilkos Reich den strengsten Winter aller Zeiten gegeben. An Krieg war da nicht zu denken. Wikanders Verbündete sollen sich aber wieder sammeln. Hätte sich der Boden in der Gegend von Bolk nicht in einen Morast verwandelt, wären die Waggs vermutlich längst zurückgekehrt. Es ist eine Frage weniger Wochen, vielleicht nur einiger Tage, bis sie zu Ende bringen, was unsere Prinzen ihnen beim letzten Mal vermasselt haben.«
»Ich finde, das ist eine gar nicht so schlechte Nachricht«, sagte Tusan.
F algon schnaubte. »Lieber hätte ich gehört, dass Wikander vom Pferd gefallen ist und sich den Hals gebrochen hat.«
Múria sah zu Twikus hinüber, der wie alle anderen nur ein Schemen im Sternenlicht war. »Jetzt liegt es an dir, mein Lieber, das Herzland zu re tten.«
Die Alpträume waren zurückgekehrt, lebendiger und erschreckender als je zuvor. Fast in jeder Nacht schwebten die Prinzen über der Sooderburg, sahen, wie die lichtlose Lohe das Land mit schwarzem Eis überzog, und stürzten zuletzt auf den Knochenturm. Bisher waren sie immer aufgewacht, bevor die Spitze des Fahnenmastes sie aufspießen konnte.
Ob es an Nisrah liegt?, fragte sich Twikus, während er an Tusans Seite in die Abenddämmerung ritt. Ergil schlief oder beschäftigte sich anderweitig in den Tiefen seines Bewusstseins. Es war der dritte Tag nach Dormunds Besuch in Hjelp. Vor den Augen des Prinzen schien die Farbe aus den sanften Hügeln zu entweichen, aber sie blieben im schwindenden Licht des Tages für ihn erstaunlich klar. Seit ihm der Weberknecht im Nacken saß, war das so. Twikus hatte die Augen eines Adlers, das Gehör einer Eule, die Nase eines Wolfs und den Durchdringungssinn eines Sirilim.
Es muss an dem Weberknecht liegen, bestätigte er sich selbst und ließ seine Gedanken nach außen dringen. Nisrah?
Hier bin ich.
Kannst du auch Träume verstärken? Twikus berichtete kurz von seinen nächtlichen Erlebnissen.
Deine Frage klipp und klar beantworten, kann ich nicht, erklärte Nisrah in der für ihn typischen, oft schräg klingenden Ausdrucksweise. Unsere Gabe benutzen wir gewöhnlich, um unsere Gespinstlinge zu anderen Weidegründen zu führen. Manchmal helfen wir ihnen dabei, über große Entfernungen einen saftigen Strauch zu wittern. Aber ihre Träume gehören ihnen ganz allein. Bewusst beeinflussen können wir sie nicht.
Dann muss es an der Nähe der Sooderburg liegen, mutmaßte der Prinz und verfiel wieder ins Grübeln.
Eigentlich spielte es auch keine Rolle, ob Nisrah nun die Träume verstärkte oder nicht. Twikus hätte lieber gleich als nachher auf die angebliche Hilfe des Weberknechts verzichtet, zu fremd war ihm dieses »Bündnis«. Sehen wir es doch einmal, wie es ist, sagte er insgeheim zu sich selbst. Ich dulde einen Parasiten an meinem Körper, der mich zu einem Buckligen macht (der Lebensknoten Nisrahs lag meistens wie ein platt gedrücktes Kissen zwischen den Schulterblättern des Prinzen). Erst gestern hatte ihn Nisrah über eine weitere verstörende Facette seiner Natur aufgeklärt.
Er war kein Mann. Bei Weberknechten gab es überhaupt keine getrennten Geschlechter. Nisrah war männlich und weiblich zugleich. Eigentlich weder Er noch Sie, sondern ein Es. Weniger dieses Zwittertum beunruhigte Twikus als der Umstand, dass damit auch etwas Weibliches an ihm hing, das er sich nicht selbst ausgesucht hatte. Irgendwie fühlte er sich wie eine Stadt, die von feindlichen Kundschaftern bespitzelt wurde. Nicht, dass er Frauen grundsätzlich als seine Gegner
Weitere Kostenlose Bücher