Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
unterschied sich in fast jeder Hinsicht vom Tal der Fischer. Seine steilen Wände ragten kaum höher als zwanzig Fuß auf, sie lagen aber auch selten weiter auseinander als zehn. Auch bestanden sie nicht aus massivem Granit, sondern aus einer Verbindung von Erde und Fels. Dazwischen ragten dicke Wurzelstränge hervor, die von den darüber aufragenden, dicht stehenden Bäumen stammten.
Vorsi c htig tasteten sich die Krodibos über den Untergrund aus Geröll und losem Kies. Ein falscher Tritt auf dem stark geneigten Hang und aus dem Ritt konnte eine gefährliche Rutschpartie werden. Aber der natürliche Lebensraum der Tiere waren die Berge. Instinktiv setzten sie ihre Hufe an die richtigen Stellen.
Schon nach kurzer Zeit kehrte Schekira zurück und landete auf der Schulter des Prinzen.
»Bäume, Felsen, Sand und Wurzeln – mehr habe ich nicht gesehen«, berichtete sie aufgeräumt.
»Bist du sicher?« Der Pri n z klang wenig überzeugt.
»Nein. Wie ich bereits andeutete, ist es ziemlich dunkel. Überall neigen sich verkrüppelte Kiefern über den Hohlweg. Ich kann unmöglich sagen, ob nicht in einem der vielen Verstecke eine Gefahr lauert. Wenn dein sechster Sinn dich vor irgendetwas warnt, dann solltest du ihm mehr vertrauen als meinen Augen und Ohren.«
Er nickte. »Vielen Dank, Kira.«
Sie seufzte. »Keine Ursache, mein Retter.«
Nach ungefähr einer halben Stunde – die Gruppe unterquerte gerade eine Felstafel, die wie ein Dach den größten Teil des Hohlweges überragte –, ließ Tusan sein Krodibo anhalten. Aus der Deckung des Überhangs deutete er nach vorne und raunte:
»Wir haben’s gleich geschafft! Ich kann das Meer sehen.«
Auch Twikus hatte das Glitzern zwischen den Wänden des Hohlweges bemerkt. Hinter sich hörte er die Gefährten aufatmen und war selbst erleichtert, endlich wieder auf offenes Gelände zu gelangen, wiewohl auch dort Gefahren lauern mochten.
Murugan hatte mit diesem Moment der Ablenkung gerechnet. Man brauchte einen Zweibeiner nur lange genug durch die Gegend wandern zu lassen, ihn der Kälte auszusetzen und ihn mit anderen Strapazen zu zermürben, um ihn mit einer Lächerlichkeit wie einem Meerblick zur Unachtsamkeit zu verführen. Die ganze Kunst des Jägers bestand nun darin, geduldig am richtigen Ort auf den Zeitpunkt des Angriffs zu warten.
Das Blut des Sindran wallte, aber äußerlich blieb er ruhig, als die Witterung des Kindes der zwei Völker endlich wieder in seine Nase stieg. Im Großen Alten hatte er sie au f genommen. Jetzt war der Junge mit dem gespiegelten Herzen direkt unter ihm. Nur eine Platte aus Kalkstein trennte sie voneinander. Lautlos kroch der graue Jäger unter dem Kiefernzweig hervor, der ihn vor den Blicken der Elvenkundschafterin verborgen hatte. Seine Pfoten schoben sich näher an die Kante heran, die Muskeln unter dem grauen Fell spannten sich. Geduckt harrte er des Augenblicks der Entscheidung. Komm hervor, mein Prinz, sprachen lockend seine Gedanken, damit der große Murugan es zum Abschluss bringen und sich endlich um seinen Nachwuchs kümmern kann…
Plötzlich brach der Boden unter ihm weg.
Krachend stürzte der Fels vor den Reitern herab und mit ihm ein fahler Körper, der aussah wie ein riesiger Wolf. Die Krodibos scheuten zwar einen Moment, wi c hen aber nicht vom Fleck. Ein Pferd wäre vermutlich in Panik davongelaufen, doch die stolzen Antholops wussten um ihre spitzen Hörner. Wie auf ein geheimes Kommando senkten sie ihre Geweihe.
Der graue Jäger war im Nu wieder auf den Beinen und reckte seine lange Schnauze in die Schatten unter dem noch unversehrten Teil des Überhangs.
Twikus erschauerte. Erst nachdem Schekira ihn zur Wachsamkeit gemahnt und er sein Tasten in den Falten von Raum und Zeit wieder aufgenommen hatte, war ihm die Bedrohung überhaupt bewusst geworden. Der Schreck hatte ihn fast aus dem Sattel geworfen. Mit Gesten warnte er rasch seine Gefährten. Dann sammelte er seine Kräfte. Sein Geist hatte einen haarfeinen Riss im Stein »gefühlt«, den er um einige Jahrhunderte altern ließ. Bis der Fels brach.
Jetzt standen sie sich gegenüber. Ein Sindran so groß wie ein Stier und das Kind der zwei Völker. Twikus spannte die Sehne seines Jagdbogens noch straffer, zögerte aber sie loszulassen. Diese gelben Augen, die das Mondlicht einfingen – er war ihnen schon früher begegnet. Von einem wankenden Pfeiler aus hatte er sie in der Gehenna vor Fungors Stadttoren aufblitzen sehen. Kam es ihm nur so vor
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