Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Prinz wusste, dass ihm wenig Zeit blieb, das Ruder noch einmal herumzureißen. Er hatte den Dolch verloren, seinen Bogen eingebüßt und nun war sogar die alte Gabe an die Kette gelegt. Seine Erinnerungen hatte ihm Wikander jedoch nicht noch einmal nehmen können. Twikus ents a nn sich endlich des Wegs zum Turmgemach, so als wäre er wieder der abenteuerlustige kleine Junge, der gerade eben von Waffenmeister Falgon aus luftiger Höhe »gerettet« worden war.
Als er sich, mit dem Schwert seines Oheims im Rücken, dem bleichen Bergfried näherte, wandte er den Blick nach oben.
»Nicht trödeln, Neffe. Wirst sehen, dein neues Zuhause hat einen prächtigen Ausblick«, sagte hinter ihm Wikander.
»Warum tötet Ihr mich nicht einfach?«, erwiderte Twikus.
»Das hatte ich nie vor. Ich wollte lediglich den Willen von Vanias Söhnen brechen. So hätte ich euch ab und zu – vielleicht einmal im Jahr – dem Volk präsentieren können:
›Seht her! Das sind Torlunds Erben. Zahlt schön eure Steuern, gebt mir eure Söhne fürs Heer und muckt nicht auf.‹ Leider scheint mein Trunk zu schwach gewesen zu sein, um euer Sirilimblut zu vergiften. Beim nächsten Mal werde ich ein wenig mehr nehmen.«
Twikus erschauerte. Sein Oheim hatte tatsächlich vor, ihn für den Rest seines Lebens in einen Zustand geistiger Umnachtung zu vers e tzen.
»Steig die Treppe hoch!«, befahl Wikander, als sie den Turm erreicht hatten.
Während die Gedanken des Prinzen sich geradezu überschlugen, nahm er äußerlich gelassen eine Stufe nach der anderen. Nur hin und wieder machte er einen größeren Schritt, da m it Wikander nicht misstrauisch würde, wenn die bewusste Stelle käme. Eine muntere Brise umfächelte das Bauwerk. Bald verwandelte sich die hölzerne Treppe in eine aus Drachenbein. Jede Stufe war aus einem Knochenstück gefertigt. Die Legende berichtete, der Turm stamme noch aus der Zeit, als Jazzarsiril mit dem Volk der Weisen ins Herzland gekommen war. Sie bauten ihre Städte in Bilath - berdeor, dem Grünen Gürtel, aber die Kundschafter des Königs erforschten den ganzen Kontinent. Zu diesem Zweck errichteten sie hier und da Stützpunkte. Einer davon war der Knochenturm von Soodland.
Die Überlieferung behauptete, alle Sirilim seien schwindelfrei gewesen und hätten zudem über eine Körperbeherrschung verfügt, die sie nie fehltreten ließ. Alle bekannten Bauwerke von Mirad, deren Ursprung man auf das Volk der Weisen zurückführte, besaßen eine Gemeinsamkeit, die für diese Annahme sprach: Sie hatten zwar zahlreiche Stege und Treppen an den Außenmauern, aber nie ein einziges Geländer. Auch beim Knochenturm war das so (ab g esehen von dem unteren, im Laufe der Jahrhunderte schon mehrfach erneuerten hölzernen Teil). Einiges sprach also dafür, dass die Legende stimmte und das anmutige Gebäude tatsächlich weit über viertausend Jahre alt war. Kein Wunder, dass einige Stufen wackelten.
Immer weiter kletterte Twikus hinauf, immer stärker wurden die Winde. Er versuchte den kalten Druck des Schwertes im Rücken zu ignorieren und sich nur von seiner Erinnerung leiten zu lassen. Lächelnd hieß er die tiefe Furche in der Mauer willkommen, die sich knapp unterhalb des vierten Stockwerkes befand. Genau dort hatte er sie erwartet. Der Weg führte immer um den Turm herum. Das Meer, der Strand, die Stadt zu Füßen der Burg, erneut das Gestade und dann wieder die See – die Anblicke wiederholten si c h, je höher sie stiegen. Als gerade wieder das Schollenmeer unter ihnen lag und sie fast schon die niedrige schmale Tür an der Spitze erreicht hatten, hielt der Prinz den Atem an. Sein Oheim konnte nicht sehen, wi e e r Zijjajims Blütengriff aufspringen ließ und das Heft mit der Rechten umfasste. Einmal mehr machte er einen großen Schritt.
Wikanders Fuß senkte sich auf die lose Stufe herab. Sein Gefangener blieb unversehens stehen.
»Keine Müdigkeit vorschützen…«, sagte der König, verstummte aber sofort wieder, weil er plötzlich ins Wanken geriet.
In diesem Moment zog Twikus das gläserne Schwert und drehte sich in derselben Bewegung zu Wikander um.
Als die beiden Schwerter sich in schwindelnder Höhe trafen, hallte ein Echo aus ferner Vergangenheit in die Gegenwart: der Todesschrei des Drachen, den die Sirilim vor Jahrtausenden auf Soodland erlegt hatten – zumindest hörte es sich so an. Die ganze Insel konnte den durchdringenden Laut vernehmen. Es war der Auftakt zu einem neuen Kampf auf Leben und
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