Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Tusans Wunde. Haut, Muskeln, eine Rippe und ein Teil der Lunge wurden wieder jünger. Auch das Herz des Freundes versetzte er ein Stück stromaufwärts im mächtigen Fluss der Zeit, damit es wieder zu schlagen begann. Mit seinem Körper verdeckte Twikus den ersten Atemzug im neuen Leben des Freundes.
»Bleib liegen wie tot!«, hauchte er in Tusans Ohr. »Wenn wir weg sind, fliehe in den Knochenturm und von da aus in die Höhlen. Rufe nach Múria. Sie wird dich ins Freie führen.«
Jemand packte ihn am Arm und sagte: »S t eh auf! Er kann dein Heulen sowieso nicht mehr hören.«
Twikus schüttelte den Kopf. Dem Drängen des Gardisten sofort nachzugeben könnte Wikanders Misstrauen schüren, sagte er sich. Also verkrallte er seine Hände in den Fellmantel des Gefährten und jammerte: »Nein, lasst mich bei ihm bleiben. Er war doch mein allerbester Freund…«
Plötzlich spürte er einen heftigen Ruck am Hals, gefolgt von einem schmerzhaften Ziehen, das sich über beide Schultern erstreckte. Ihm stockte das Herz. Der Mann hatte ihn von dem vermeintlichen Leichnam wegzerren wollen und ihm dabei den Soldatenumhang mit dem darin verborgenen Netzling von den Schultern gerissen.
Unvermittelt spürte Twikus ein kaltes Stechen im Nacken. Mit den Reflexen eines wilden Tieres wich er vor der eisigen Spitze zurück und fuhr herum.
Neben ihm stand sein Oheim, in der Hand das schwarze Schwert Schmerz – die lange, wie Glas glänzende Klinge deutete direkt auf das Gesicht des knienden Prinzen.
»Jetzt keine Dummheiten!«, warnte Wikander. »Steh langsam auf und t r ete ein Stück zur Seite, damit – wenn ich deine eigenen Worte etwas abwandeln darf – dein aufopferungsvoller Freund sich ungestört seinem Tod hingeben kann.«
»Ihr seid ein Ungeheuer mit einem Herz aus Stein«, zischte Twikus, gehorchte aber, schon um die A u fmerksamkeit von Tusan abzulenken. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Gardist den Umhang – und damit auch Nisrah – achtlos zu Boden fallen ließ.
»Immer noch besser als zwei Schwächlinge mit einem gespiegelten Herzen«, erwiderte der König unbeeindruckt und deutete mit der Schwertspitze zum Thron. »Da geht’s lang.«
Der Prinz sah ihn fragend an.
Wikander lächelte nachsichtig. »Ich möchte dir den ermüdenden Gang durchs Labyrinth ersparen, Neffe Twikus. Es gibt einen kürzeren Weg zum Knochenturm.«
»Majestät?« , meldete sich die Stimme des Leibwächters, der zuvor Tusan festgehalten hatte.
»Wa s wills t du , Edelwin?«
»Sollten wir Euch nicht besser begleiten?«
»Das wird nicht nötig sein. Ich möchte meinen endgültigen Sieg über Torlunds Sippe gerne ganz allein auskosten. Ohne seinen Bogen und die Hexenkünste seiner Mutter ist dies nur ein wehrloser Junge. Kümmert euch um die Verletzten und lasst die Burg nach weiteren Eindringlingen durchkämmen.«
»Aber…!«
»Euer Pflichtbewusstsein in Ehren, Edelwin, doch Ihr wisst, was ich mit diesem Schwert auszurichten vermag.«
Der Gardist verneigte sich. »Ja, Majestät.«
Wikander wandte sich erneut dem Prinzen zu und strahlte voll hämischer Freude über das ganze Gesicht.
»Und jetzt zu uns, mein lieber Neffe.«
Der Weg aus dem Palastlab y rinth war tatsächlich erstaunlich kurz. Er führte durch einen fensterlosen Gang, der sich durch das Verschieben einer Reihe von Wänden wie von Geisterhand hinter dem Thron geöffnet hatte. Wikander musste dazu nur an einem Hebel ziehen, der dort hinter dem Wandteppich verborgen war.
Twikus ließ sich ohne Gegenwehr durch den Flur treiben. Bei der Wiederbelebung Tusans hatte er sich bis zur Erschöpfung verausgabt. Múrias Warnung davor, welche Folgen es haben würde, wenn er seine Kräfte über Gebühr beansprucht e , lähmten einmal mehr sein klares Denkvermögen. Darüber hinaus spürte er Schmerz – es war, als liege er unter einer kalten Eisenplatte, die ihn zu zerquetschen drohte. Einmal, kurz nach dem Verlassen der Thronhalle, hatte er versucht seinen Sirilimsinn einzusetzen, aber sofort war wieder dieses grauenvolle Gefühl da gewesen, als würde er mit einem Eiszapfen gepfählt.
Durch eine schmale Tür an der nördlichen Stirnseite des Palastes gelangten sie in den Innenhof. Einige Soldaten blieben überrascht stehen und verneigten sich ehrerbietig, als sie ihren König mit dem Gefangenen sahen. Wikander bedeutete ihnen durch eine wirsche Geste, dass sie sich um ihre eigenen Geschäfte kümmern sollten, und schubste seinen Neffen weiter in Richtung Turm.
Der
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