Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Schmerzes ist die Trauer. Wer kann sich ihrer Macht entziehen?«
Twikus war kein großer Denker, aber selbst er hatte begriffen, dass die Krieger seinetwegen gekommen waren. Die Worte dieses Triga hatten zwar in mancher Hinsicht wie Rätsel geklungen – warum bezeichnete er einen Jungen als
»Hexenbrut« und wieso hatte er von diesem in der Mehrzahl geredet? –, doch alles zusammengenommen war der geh a rnischte Vagabund gekommen, um ihn, Twikus, dem Großkönig auszuliefern. Falgon hatte sterben müssen, weil er seinen Zögling beschützen wollte. Grund genug für Twikus, sich schuldig zu fühlen.
Abermals brach er in Tränen aus und diesmal drohte das Elend ihn ganz zu übermannen. Schekira versuchte ihn zu trösten, aber sein Klagen übertönte ihre Worte. Den milden Klang ihrer Stimme vernahm er sehr wohl, aber er vermochte ihm keine Linderung zu verschaffen. Im Gegenteil steigerte sich der Junge immer weiter in seine Selbstvorwürfe hinein.
Der Schmerz der Trauer erschien ihm schlimmer als jede andere Pein.
Twikus hatte den schwarzen Speerschaft losgelassen. Sein Kopf hing schwer herab. Er weinte hemmungslos. Wenn es je etwas gegeben hatte, das er sich von ganzem H erzen wünschte, dann hier und jetzt das Wiedererwachen seines guten, alten, bärbeißigen, einsilbigen, weisen, strengen, geduldigen, starken, liebevollen Oheims. Im Falle des Verräters hatte er doch ein Wunder vollbringen können, diesen innerhalb weniger Atemzüge altern lassen. Wieso konnte er für Falgon nicht das Umgekehrte tun, das Geschehene rückgängig machen, als wäre es nie passiert, das Tor zum Haus der Toten noch einmal aufstoßen und den Ermordeten zurückrufen? Twikus schüttelte den Kopf. Wenn seine Kraft im Schmerz lag, wie Schekira angedeutet hatte, dann müsste er in diesem qualvollen Augenblick der mächtigste Junge Mirads sein und könnte die Ereignisse einfach zurückdrehen. Wenigstens den verfluchten Speerstoß ungeschehen machen!, schrien seine Gedanken und dabei hämmerte er vie r - , fünfmal mit den Fäusten auf die Brust des Toten.
Sein Blick war zu verschleiert, um irgendetwas erkennen zu können. Seine Finger suchten nach dem schwarzen Schaft. Er wollte Falgon nicht mit dem Zeichen seiner Niederlage ins Haus der Toten gehen lassen…
Twikus wunderte sich. Er konnte die Waffe nicht ertasten. Sie war verschwunden. Ein entzücktes Seufzen drang an sein Ohr.
»Oh, sieh nur, was du getan hast!«
Einmal mehr musste er sich die Tränen fortwischen, um klar sehen zu können. Sein rechter Handrücken fuhr abwechselnd über das eine und das andere Auge, bis seine Linke, die immer noch auf Falgons Brust lag, etwas Unglaubliches spürte. Er hielt verdutzt inne. Das war unmöglich.
Falgons Herz hatte wieder begonnen zu schlag e n. Unversehens hob sich der mächtige Brustkorb des Waldläufers. Er schöpfte tief Atem und öffnete die Augen.
»Er lebt!«, jubilierte Schekira.
Twikus schüttelte ungläubig den Kopf. »Wo ist der Speer? Und wo die Wunde?« Tatsächlich war Falgons Körper völlig unversehrt, sein Wams hatte kein einziges Loch zu viel.
Der Alte wirkte benommen, wie jemand, der aus tiefer Bewusstlosigkeit erwacht. Mühsam richtete er sich zum Sitzen auf und sah sich um. »Warum liege ich hier im Sand? Bin ich eingeschlafen?«
Twikus wollte antworten, aber er konnte nicht. Beim Atmen hatte er das Gefühl, seine Brust würde flattern. Er fiel Falgon um den Hals und brach erneut in Tränen aus.
Derart innige Gefühlszuwendungen waren zwischen den beiden Jägern nicht unbedingt üblich, aber der Ältere spürte wohl, dass dies auch kein gewöhnlicher Moment war. Er tätschelte den Rücken seines Schützlings und wollte gerade etwas sagen, als hinter ihm ein helles Stimmchen seufzte: »Das hätte selbst ich nicht erwartet.«
Erschrocken fuhr Falgon herum, s a h aber zunächst nur die Kadaver dreier Grotans und den Leichnam eines riesigen Kriegers im Sand liegen.
»Ich bin hier unten«, meldete sich erneut die hohe Stimme. Falgon musste Twikus erst von sich schieben, bis er sich weit
genug umwenden konnte, um Schekira zu entdecken.
»Das ist doch unmöglich!«
Schekira schmunzelte und erwiderte fröhlich: »Ein Wort, das man sehr vorsichtig gebrauchen sollte, Freund Falgon. Ich selbst habe diese Lektion eben erst aufgefrischt.«
Twikus ging vor der Elvin in die Hocke, um sie genauer zu betrachten. Die wundersamen Erfahrungen dieses Morgens wollten scheinbar kein Ende nehmen. An Falgon gewandt
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