Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
durch die Augen des anderen.«
Falgons tiefe Stimme verschaffte sich Gehör. »Dazu kann ich etwas sagen – hab euch zwei ja lange genug beobachten können. Ihr seid immer abwechselnd wach gewesen. Wenn mich heute Ergil mit seinen Fragen löcherte, dann musste ich morgen Twikus von meinen Schwertern versch e uchen; einen Tag lang führte also der eine Bruder euren Körper spazieren und am nächsten wieder der andere.«
Twikus hatte sichtlich Mühe, die ganze Tragweite seiner ungewöhnlichen Existenz zu begreifen. »Dann habe ich ja von den zehn Jahren, die ich jetzt bei dir bin, die Hälfte versäumt.« Einmal mehr meldete sich Ergil zu Wort. Du vergisst die Träume, Bruderherz. Jetzt ist mir alles klar! Wie oft konnte ich sehen, was du erlebt hast.
Hoffentlich nicht immer, gab Twikus zu bedenken.
Nein, ab und zu muss ich auch geschlafen haben. Aber es ist schon erstaunlich, wie oft du mit den Waffen des Oheims gespielt hast.
Wehe, du verpetzt mich!
Was ist dann? Willst du mich auf deine Nase schlagen?
»Darf ich euch zwei kurz unterbrechen?«, fragte Schekira von Twikus’ S c hulter her.
»Wohe r weiß t du…?«
»Wenn ihr euch miteinander unterhaltet, ist euer Mienenspiel ein offenes Buch. Darin zu lesen, fällt nicht schwer.«
»Mir graut davor, mit Ergil einen einzigen Körper zu bewohnen. Er ist ein Besserwisser.«
Bin ich gar nicht.
» Un d ob!«
Dann bist du ein Holzkopf, der außer der Jagd …
»Twikus?«, versuchte Schekira erneut seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Wa s ist?«
»Da gibt es noch etwas Wichtiges, das ich dir sagen muss.«
»Ich höre. Ergil macht sowieso, was er will.«
»Genau darum geht es. Meine Mutter hat mir oft von etwas erzählt, das sie die ›schwerste Prüfung für Sirilim - Zwillinge‹ nannte. Bevor sich die Geschwister das erste Mal begegnen, leben sie Seite an Seite im selben Körper und ahnen voneinander nur aus ihren Träumen, ab e r nachdem das Siegel gebrochen ist, müssen sie lernen ›ihr Herz im Spiegel zu betrachten‹ – genau diese Worte hat sie benutzt.«
Schekiras sanfte Stimme wirkte auf den Jüngling so beruhigend wie der Gesang der Nachtigall. Twikus’ Unmut über den uneingeladenen Mitbewohner löste sich auf. Nur die Verwirrung ließ sich nicht so schnell vertreiben. »Ein gespiegeltes Herz? Wa s sol l da s sein?«
»So schwer ist das doch gar nicht zu begreifen, mein Retter. Wenn du jemanden oder etwas vor einem Spiegel betrachtest, dann siehst du es oder ihn doppelt. Beide Seiten – das Davor und das Dahinter – erscheinen sehr ähnlich, obwohl sie kaum unterschiedlicher sein können. So ist es mit dem gespiegelten Herzen von Sirilim - Zwillingen. Sie fühlen es, der eine wie der andere, als besäße jeder ein eigenes, und trotzdem gibt es nur ein einziges. Hört es auf zu schlagen, dann sterben beide Geschwister. Deshalb dürfen sie sich nie bekämpfen, sondern müssen in Harmonie miteinander leben. Und das bedeutet zu teilen.«
»Da s Herz?«
»Alles, a ber vor allem die Zeit, die ihnen gegeben ist.«
Sie hält es wohl für angebracht, dass wir uns einen Plan machen, schlussfolgerte Ergil. Jeder bekommt unseren Körper für eine bestimmte Zeit und der andere hält solange still oder macht ein Nickerchen.
Ic h ve rschwende doch nicht mein halbes Leben damit, deinen Unterhaltungen mit Pilzen und Schmetterlingen zu lauschen.
Was ist so schlimm daran? Das hast du bisher doch auch getan.
Schon, aber gegen Alpträume kann man eben nichts machen.
»Was meint Ergil dazu?«, erkundigte sich die Elvin.
»Ich fürchte, wir zwei haben recht verschiedene Vorstellungen davon, wie unser Leben in Zukunft aussehen soll. Was machen wir, wenn mein Bruder ein Gelehrter werden will, der sich seinen Hintern in einer muffigen Stube platt sit z t, und ich ein Held, der gefährliche Abenteuer bestehen möchte?«
»Vielleicht darf ich auch mal was sagen«, brummte Falgon, der zuletzt immer unruhiger geworden war. »Möglicherweise kommt die Bande noch einmal zurück. Wir sollten daher schleunigst von hier verschwinden. Wenn wir Glück haben und man Trigas Worten Glauben schenken kann, dann sind er und seine Leute den Grotans direkt bis zu diesem Platz gefolgt und haben unser Waldhaus noch nicht entdeckt. Lasst uns also dorthin gehen und überlegen, was wir tun werden.«
Der Vorschlag des Waldläufers leuchtete allen ein. Drondis’ Leichnam und die Tierkadaver ließen sie am Uferplatz liegen. Falgon meinte, es gebe genug Aasfresser im
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