Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
verspürte er ein Ziehen, das ihm die Gefahr unleugbar signalisierte; es begann in den Fußsohlen und stieg rasch die Beine empor. Von einer f urchtbaren Ahnung gepackt, sah er nach unten und erschrak. Er versuchte zur Seite zu springen, aber es gelang ihm nicht. Kaum waren seine Füße abgehoben, wurden sie auch schon zurückgezogen. Und nun klebten sie am Boden fest.
Auf den ersten Blick sah die k lare Pfütze, in der er stand, wie Wasser aus. Doch ihr wohnte ein beunruhigendes Eigenleben inne. Offenbar war sie, während Twikus mit Falgon und Dormund das Schwert bestaunt hatte, unter dem Tor in die Schmiede geflossen. Jetzt kroch sie über die Steinpl a tten. Mal bewegte sie sich schnell wie ein zuschnappender Fangarm, dann wieder schlich sie gleich einem lauernden Raubtier. Im Nu hatte sie sich zwischen die beiden älteren Männer und den Prinzen geschoben. Eine beklemmende Unruhe erstreckte sich über die gesamte Oberfläche des kaum fingerhohen Rinnsals: Sie kräuselte sich, blähte sich, wellte sich, glich immer mehr einem großen Laken, unter dem sich kaum noch zu bändigende Lebewesen gegenseitig stießen und schoben. Das unheimliche Gefließ breitete sich sc h neller aus, als die vom Entsetzen gelähmten Männer reagieren konnten. Als Dormund dem Schrecken endlich einen Namen gab, war es bereits zu spät.
»Di e Ischschsch.«
Twikus packte das Grauen. Er konnte seine Beine kaum noch erkennen, obwohl das wabernde Etwas drum herum vollkommen durchsichtig aussah. Aber dafür spürte er die so gefesselten Gliedmaßen intensiver als je zuvor in seinem Leben. Es war ein Gefühl, als würden sie ihm am Körper verdorren, und die Haut spannte, als wolle sie jeden Moment platzen. Der Schmerz war kaum noch zu ertragen, aber die Ischschsch krochen immer weiter an ihm hoch.
»Warte!«, rief Falgon. Wider besseren Wissens riss er Biberschwanz aus der Scheide und wollte vorpreschen. Kaum hatte er den ersten Schritt gemacht, erhob sich vor ihm eine durchsichtige Gestalt. Der Form nach war es ein massiger Krieger mit gehörntem Helm und einer zum Schlag erhobenen, doppelschneidigen Axt. Aber der Gegner, der sich so überraschend aus der Pfütze herausgestülpt hatte, war klar wie reinstes Eis. So e rschreckend er auch sein mochte, so wenig ließ sich der Waffenmeister von ihm einschüchtern. Falgons Schwert stieß blitzschnell nach vorn und bohrte sich in die wässrige Brust. Twikus konnte sehen, wie die Spitze am Rücken des Recken wieder austrat. Der im Kämpfer steckende Teil der Waffe war so gut wie unsichtbar.
Die von den Ischschsch geformte Gestalt blieb stehen, als gebe es keine Klinge in ihrem Leib. Der massige Axtschwinger war nur eine Falle, um den menschlichen Gegner anzulocken. Während Falgon noch verdutzt die Wirkungslosigkeit seines Angriffs zur Kenntnis nahm, floss die Flüssigkeit schon seinen Schwertarm hinauf.
»Seid Ihr von Sinnen!?«, schrie Dormund und warf sich gegen den Waffenmeister. Ersterer war schwer und Letzterer zum Glück robust. F ü r einen Moment dehnte sich die klare Fessel wie ein zäher Schleim, aber dann kam Falgons Arm samt Schwert mit einem schnalzenden Geräusch frei. Die beiden Männer landeten hart auf dem Ziegelboden.
»Was habt Ihr Euch dabei gedacht?«, schimpfte Dormund.
»We n n die Ischschsch Euch ganz umschließen, dann seid Ihr auf ewig verloren.« Vor lauter Aufregung war er wieder in die alten Höflichkeitsformen zurückgefallen.
Stöhnend rappelten sich beide hoch, um sich außer Reichweite der Formlosen zu begeben. Der Waffenm e ister deutete mit dem Schwert auf den Prinzen. »Was glaubst du, warum ich dem Jungen zu Hilfe kommen wollte? Das Zeug geht ihm schon bis zur Brust. Er kann jeden Moment verschwinden. Für immer!«
Tu doch was!, schrie Ergil.
Twikus war der Panik nahe. Ich ka n n nicht!
Beide fühlten die boshafte Gier, die in jedem einzelnen Tropfen steckte, der an ihrem Körper emporschlich. Anstatt sich mit der Durchdringung der Ischschsch einen Vorteil zu verschaffen, wurden die Sinne der Brüder dadurch nur noch schneller gel ä hmt. Ergil und Twikus konnten zwar den Schmerz in ihrem scheinbar verdorrenden Körper fühlen, sich aber nicht dagegen wehren. Nur ihre Schultern und der Kopf ragten noch aus der wässrigen Fessel, die ihren Geist zu ersticken drohte. Selbst wenn es diese Umschlingung nicht gäbe, wenn Twikus sich einmal mehr mit dem silbernen Dorn hätte stechen können – was sollten sie mit ihrer Gabe anfangen? Die Ischschsch
Weitere Kostenlose Bücher