Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
den Vorsprung. Aber er war zu schmal, um dem schweren Tier sicheren Halt zu geben. Schon rutschte der Hengst Stück um Stück nach unten. Der Sturz in die unergründliche Tiefe begann mit grausamer Langsamkeit.
Die entsetzliche Szenerie begann vor Twikus’ Augen zu verschwimmen. Nur undeutlich konnte er noch den mehrfach um Dormunds Hand gewickelten Zügel erkennen. Der Schmied würde mit seinem Tier in den Abgrund geris sen werden, die Elvenprinzessin nichts für die beiden tun können, der herbeieilende Falgon zu spät kommen… War das eine Vermutung oder der Blick in eine nahe, allzu furchtbare Zukunft?
Erst vor wenigen Tagen hatte Twikus am Wildbach ähnlich verwirrende Visionen gehabt. Wenn er nur klar denken könnte! Er fühlte sich wie mit der Keule geschlagen. In seinem Körper brodelte es. Der Geist gaukelte ihm flackernde Lichter vor, tausende Sonnenauf- un d - untergänge. Die Silhouette der Stadtmauer hinter dem schauerli c h wiehernden Pferd verschwand. Dafür wuchs ein wogendes Meer von Pfeilern aus der Dinganschlucht empor. Ein Pelz aus Stein…?
»Helft mir!« Endlich hatte Dormund bemerkt, dass seine Hand zu fest mit dem Zügel verschlungen war, um sie beim Abrutschen des Pferdes freizubekommen. Aber es war zu spät. Er wurde mitgerissen.
»Neiiinnnn!«, schrie Twikus voll ohnmächtigem Zorn. Dieser Mann hatte ihm vor kaum zwei Stunden das Leben gerettet. Doch nicht um diesen Preis! Das konnte, nein, das durfte nicht sein! Die Säule hatte sich zu früh bewegt. Wenn sie nur einen Atemzug länger an ihrem Ort geblieben wäre…
»Das ist unglaublich!«, stieß Falgon hervor und fügte sogleich hinzu: »Gib Acht, Dormund! Der Pfeiler kehrt zurück.«
Langsam schob sich die erste Felsnadel aus der Tiefe an die zweite heran. In dem Moment, als Borkes Hinterhufe unwiderruflich den Halt verloren, wurden sie von unten aufgefangen. Sanft hob der Pfeiler, dessen wahre Natur Twikus für einen Augenblick gesehen hatte, das Pferd empor. Falgon half dem Schmi e d beim Überwechseln auf den sicheren Grund. Im nächsten Moment schwang das gigantische Haar der Dingan auch schon wieder davon.
Und dann brach der Prinz zusammen. Schekira, Falgon und Dormund eilten zu ihm.
»Was ist mit dir?«, fragte der Waldläufer.
»Es h a t… so viel Kraft gekostet!«, ächzte Twikus. Er lag auf dem Rücken. Die Elvin war neben seinem Kopf gelandet und streichelte ihm mitfühlend das Ohrläppchen.
»Was…?« Falgons Kinn klappte herab. Er blickte verstört zu der anderen Felsnadel hinüber – sie näherte sich gerade dem Rand der Schlucht –, dann wieder ins Gesicht des jungen Mannes. »Willst du etwa sagen, du hättest den Pfeiler zurückgeholt?«
»Nein. Ich habe nur seine Zeit verändert.«
»Wi e bitte?«
»Ihn wieder an den Ort gestellt, wo er gerade eben gewe s en war.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Wenn es ein Scherz wäre, Oheim, dann würdest du jetzt nicht mehr leben. Weißt du denn nicht mehr? Trigas Speer in deiner Brust…«
»Schon gut«, wehrte Falgon ab. Seine tief sitzende Abneigung gegen alles, was ihm mysteriös erschien – die Sirilimgaben eingeschlossen – machte ihn fahrig. »Du musst wieder auf die Beine. Die Gefahr ist noch nicht vorüber.«
Schmied und Waffenmeister stellten ihren Schützling auf die Füße und weil er ohne ihre Unterstützung sofort wieder zusammengeklappt wäre, hievten sie ihn kurzerhand auf den Rücken des Fuchses. Als Twikus einigermaßen sicher im Sattel saß, legte ihm Dormund die Hand auf den Oberschenkel.
»Danke , Hoheit.«
»Ic h bi n Twikus.«
»Ja, ja. Trotzdem: Du hast mir das Leben gerettet.«
» W i e d u zuvo r mir , Dormund.«
»Das ist etwas anderes.«
»Ist es nicht. Du glaubst doch nicht, nur weil du ein Schmied bist und ich ein Prinz…«
»Wenn ich euch zwei kurz unterbrechen dürfte«, sagte Falgon und deutete in Richtung Stadt, »dann schaut mal dort hinü ber.«
Twikus tat es und erschauerte. »Diese Narren wollen doch nicht allen Ernstes…«
»Ich fürchte doch. Sie machen sich bereit, auf den ersten Pfeiler überzusetzen. Fühlst du dich schon wieder stark genug, um uns zum nächsten zu führen?«
»Bleibt mir eine a nder e Wahl?«
»Nicht, wenn du uns lebend hier herausbringen willst.«
Trotz des ernsten Hinweises klebte der Blick des Prinzen weiter am Rand des Abgrundes fest. Beklommen verfolgte er die Vorbereitungen der Soldaten. Sie nahmen in Viererreihen an demselben Punkt Aufstellung, an dem er zuvor mit seinen
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