Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Wortwechseln seiner Gefährten war die erschreckende Erkenntnis gekommen, dass der erste Brückenpfeiler sich jeden Moment mit dem eigenen vereinen würde. Der Wechsel auf den nächsten musste dagegen noch warten. Die Wankelmut schenkte ihnen nichts. Der Prinz wandte sich um.
Sein Blick irrte durch die konturlose Leere des Abgrunds, wanderte am Rand des Abgrunds entlang und strauchelte jäh über zwei kleine, gelbe, eng beieinander stehende Punkte. Sie glommen zwischen den schwelenden Müllhaufen, aber Twikus erkannte sofort, dass er keine Schwefelflammen sah. Sie bewegten sich, aber ihr Abstand zueinander blieb unverändert. Es waren Augen. Augen, die zu ihm herüberspähten. Ruhig. Lauernd. Der Sindran!
Es koste t e Twikus erhebliche Überwindung, sich von den glosenden Augen loszureißen, um sich den naheliegenderen Gefahren zuzuwenden, und was er im Licht des gläsernen Schwertes entdeckte, war einigermaßen erschreckend für ihn. Gerade tauchten unter ihnen die beiden Soldaten auf. Der Hauptmann saß auf seinem Pferd, das gezückte Schwert zum Angriff bereit. Sein Mitstreiter kauerte am Boden neben seinem fallen gelassenen Bogen und hielt sich die blutende Hand, aus der immer noch Falgons Pfeil ragte.
»Der Dummkopf steht ziemlich dicht am Rand«, sagte Falgon. Er ließ den Bogen fallen und zog Biberschwanz aus der Scheide.
»Alles klar«, antwortete Dormund ruhig.
Das erste Plateau hatte sich noch nicht ganz auf das Niveau des zweiten gehoben – der Soldat auf seinem Pferd war also für einen Moment nicht größer als seine Gegner –, als Dormunds Hammer auch schon auf ihn zugerast kam. Der Angriff überraschte den Hauptmann der Stadtwache augenscheinlich, weil er sich Falgon zugewandt hatte, dessen Breitschwert er wohl für die grö ß ere Bedrohung hielt. Ehe er sein Langschwert zur Abwehr des Hiebs herumreißen konnte, traf ihn der schwere Vorschlaghammer gegen den Brustpanzer. Von der Wucht des Aufpralls wurde er aus dem Sattel geschleudert, schepperte über den Fels und blieb dicht vor der Kante des Plateaus liegen.
In Twikus’ Erleichterung über den günstigen Verlauf des Kampfes mischte sich Unbehagen. Der leichtsinnige Soldat, der offenbar nicht wusste, wen ihm das Schicksal als Gegner auserkoren hatte, keuchte. Sein Panzer war eingeb e ult. Er versuchte sich vom Boden aufzurappeln, brach aber gleich wieder zusammen.
»Wenn du den Feind nicht besiegen kannst, dann verhandle mit ihm«, rief Falgon dem Gestürzten zu und hob zum Gruß die Hand.
Der erste Pfeiler löste sich vom zweiten und schwang in die Finsternis zurück.
»Das war knapp«, sagte Schekira, die das Kampfgeschehen aus der Luft beobachtet hatte. Jetzt landete sie wieder zwischen Feuerwinds Ohren.
»Unter knapp verstehe ich etwas anderes«, brummte Falgon.
»Ist schon klar, woher Twikus seinen Hang zur Aufschneiderei hat.«
»Es wäre sehr rücksichtsvoll, wenn ihr jetzt einfach mal ruhig sein könntet«, beschwerte sich der. »Ich muss mich konzentrieren.«
Falgon machte mit den Händen, das Breitschwert noch immer in der Rechten haltend, eine beschwichtigende Geste. »Schon gut. Du sollst deine Ruhe haben. So bald werden unsere Verfolger ja wohl nicht wieder hier aufkreuzen.«
Schekira verdrehte ihre Augen zum Nachthimmel.
»Männer!«
Diesmal gelang es Twikus und Ergil schneller, ihren Geist mit den sich wiegenden Dinganhaaren zu verbinden. Einmal ließen sie die Berührung mit dem dritten vorübergehen, weil sie nur von kurzer Dauer war, dann scheuchten sie ihre Gefährten auf Pfeiler Nummer drei.
So ging es die ganze Nacht hindurch. Die Kraft der Zwillinge wurde immer schwächer, die Ruhepausen, die sie nach jedem Wechsel einlegen mussten, dagegen zunehmend länger. Das Wogen der Felsnadeln war manchmal nur noch ein farbiges Geflirre hinter ihren geschlossenen Lidern. Falgon wollte schon den Vorschlag machen, bis zum Morgengrauen auf einem der schwankenden Pfeiler auszuharren, als Schekira von einem kurzen Erkundungsflug mit jener guten Nachricht zurückkehrte, die in Twikus und Ergil letzte Reserven mobilisierte: Die gegenüberliegende Seite der Dinganschlucht sei schon in Sicht!
Wohlbehalten überquerten sie die letzten fünf Felsfinger. Die Brücke Wankelmut war sich treu geblieben, die Legende erneuert. Nicht allein, weil ihre Unstetheit einmal mehr wackeren Männern das Leben gekostet, sondern auch weil Harkon Hakennase Recht behalten hatte.
Es waren tatsächlich sechsund sechzig
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