Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Brückenpfeiler gewesen.
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DE R GRAU E JÄGER
Das Licht der Schwefelfeuer schien in den gelben Augen gefangen zu sein. Sie glühten, aber keiner der Soldaten am Abgrund nahm sie wahr. Weil alle auf die Brücke Wankelmut blickten. Auch Murugan.
Schaumiger Geifer troff von seinen Lefzen. Die Zunge hing seitwärts aus dem Maul, bewegte sich vor und zurück im hechelnden Rhythmus, ohne an dem mörderischen Gebiss Schaden zu nehmen. Der graue J äger erwog die Möglichkeit, sich ebenfalls auf die Brücke zu begeben, nachher, wenn die eisenstarrende, stinkende Meute der Stadtwache ihr sinnloses Unterfangen aufgegeben hatte…
Für einen Moment kam es dem Sindran so vor, als blicke der Sirilim - Zwilling g enau zu ihm herüber, aber dann wurde er von den zwei Narren abgelenkt, die ihm und seinen menschlichen Begleitern nachgesetzt hatten.
Nein. Es wäre zu riskant, die Wankelmut herauszufordern. Selbst wenn die nach wie vor wachen Raubtierinstinkte ihn unbeschadet über den unsteten Pfad führen mochten, was keineswegs sicher war, blieb immer noch dieser Junge. Nicht dessen zielsichere Pfeile fürchtete Murugan – der Herr in den eisigen Höhen hatte ihn gegen den Stahl der Menschen gefeit –
, es war dieses Kind zwe i er Völker, das ihn zur Vorsicht mahnte. Zum Glück schien es ungeschickt zu sein wie ein Welpe, der noch nicht wusste, welche enormen Kräfte in ihm steckten. In dieser Unkenntnis sah Murugan seinen Vorteil.
Bevor jener mächtige Gegner erwachen konnte, der z weifellos in dem Knaben schlummerte, würde die Jagd vorüber sein. Es würde eine bessere Gelegenheit geben, einen Ort, der mehr Deckung bot. Mehr Hinterhalte.
Der Sindran wandte sich von dem aberwitzigen Geschehen in der Schlucht ab und lief durch die Scha t ten in Richtung Norden. Das Soldatenrudel hatte seine Chance gehabt und versagt. Die Menschen waren so dumm! Sie folgten sinnlosen Befehlen, die sie in aussichtslose Unternehmungen stürzten, wo sie gedankenlos ihre Kräfte und ihr Leben vergeudeten. Er würde klüger sein. Der Herr in den eisigen Höhen hatte ihn nicht umsonst mit einem Verstand ausgestattet und ihn zum König seiner Art gemacht. Er, der große Murugan, würde seine Gabe mit Schläue nutzen, um sich noch lange daran zu erfreuen. Nachdem er sich be i m Herrn erkenntlich gezeigt hatte.
Er würde dem Dingangraben folgen. Jetzt, wo die anderen gescheitert waren, durfte er endlich tun, was er am besten konnte. Das Treiben ist nur der Beginn einer erfolgreichen Jagd, aber sie endet mit dem Schlagen der Beut e .
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DA S TREIBGUTSCHIFF
Der Großkönig breitete seine üble Herrschaft wie ein dunkles Leichentuch über die Königreiche von Mirad aus. Soodland, Ostrich, Kimor und Pandorien waren bereits fest in seiner Hand. Yogobo kämpfte noch um die Unabhängigkeit. Einzig die Grenzen des Stromlandes hatten Wikanders Truppen noch nicht gestürmt, weil es hinter natürlichen Schutzwällen lag. Aber die gebirgige, vom Kandenblood und seinen Nebenflüssen geprägte Region wurde immer häufiger von den Salbacken, den wilden Re i terhorden der Weststeppen, überfallen. Dormunds Zusammenfassung der jüngsten Nachrichten aus den sechs Reichen war eher eine Aufzählung von Schrecklichkeiten als etwas, das Hoffnung versprach.
»Es gehen Gerüchte um von einer mächtigen Armee, die sich im Süden sammelt«, schloss der Schmied seinen Bericht.
Falgon schürte mit einem Stecken das Feuer, das sie für den Rest der Nacht warm gehalten hatte. Ohne von der Glut aufzublicken, antwortete er: »Im Süden? Etwa im Reich der Maden?« Er schüttelte angewidert den Kopf.
Besagte »Maden« nannten sich selbst Xk. Sie waren ein Volk so seltsam wie ihr Name. Keine Bezeichnung vermittelt allerdings auch nur andeutungsweise eine Vorstellung von ihrer komplexen Natur. Tatsächlich ähnelten ihre blassgelben, halb durchsichtigen, in zwanzig oder mehr Segmente unterteilten Körper übermannsgroßen Larven oder Raupen. Aus ihren röhrenförmigen Leibern konnten sie, scheinbar willkürlich, Fortsätze unterschiedlicher Stärke und Länge ausstülpen, deren Enden mit Saugnäpfen versehen waren. Der Kopf verfügte reihum über vier große Augen und oben über einen weiteren großen Saugnapf, der an den Rändern eine mehr oder weniger dichte Behaarung aufwies. Ihre Kleidung bestand aus Schleim, den sie aus unzähligen Drüsen in schier unermesslichen und häufig wechselndem Farbenreichtum abzusondern pflegten.
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