Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Dormund staunend.
Falgon zuckte die Achseln. »Es sind Tiere. Sie gehorchen nur ihren Inst inkten.«
Twikus schüttelte den Kopf. Erst am Morgen hatte er ein längeres Gespräch mit seinem Bruder geführt, der sich seit neun Tagen dem Studium der Drachenkrebse widmete. »Nein. Sie gehorchen den Flussgoldern. Ergil hält es sogar für möglich, dass sie wie wir ein eigenes Bewusstsein haben. Selbst wenn er sich irren sollte, dürften sie klüger sein, als man es von gewöhnlichen Krustentieren erwarten kann. Wäre es anders, dann sähe es jetzt nämlich schlecht für uns aus. Vielleicht hätten wir uns ja noch re c htzeitig unters Floß flüchten können, aber unsere Pferde wären dem Pfeilhagel nicht entgangen.«
Der Schmied beobachtete vier Krebse beim Abtransport des letzten Kadavers. Nachdem sie mit den sterblichen Überresten im Wasser verschwunden waren, fragte er unbehaglich:
»Wovon ernähren sich die Viecher eigentlich?«
In den folgenden zwölf Tagen blieben die Flussfahrer weitgehend unbehelligt. Das mochte auch daran liegen, dass Pandorien hinter ihnen zurückfiel und Yogobos grüne Weidelandschaft nun beide Ufer des Fendenspunds säumte. Hüben wie drüben tauchten gelegentlich Schafherden, Zeltlager und manchmal sogar kleinere Ortschaften auf. Bei jedem, der das Treibholzschiff aus der Nähe zu sehen bekam, verursachte es Reaktionen, die je nach Gemüt zwischen Staunen und Ohnmachtsanfällen lagen.
Außerplanmäßig legten die Krebse auf Falgons Drängen hin eine mehrstündige Pause ein, damit das Floß die Hauptstadt Yogobos nicht bei Tageslicht passieren musste – wer konnte schon wissen, ob Ost - Blund noch frei war oder bereits von den Truppen des Großkönigs kontrolliert wurde? Ungestört und wohl auch ungesehen glitt das Floß im Dunkeln unter den Mauern der Stadt vorbei.
Hinter Gorm hatte sich das Wetter vorübergehend gebessert. Sogar die Nächte waren wieder mild. Aber das änderte sich, je näher sie der nächsten großen Etappe ihrer Reise kamen. Obwohl nur vereinzelte Federwolken die Makellosigkeit des blauen Himmels störten, wehten den Flussfahrern bald eisige Fallwinde ins Gesicht, Vorboten eines Reiches ewigen Eises.
Etwa zwölf Stunden waren seit Ost - Blund vergangen, die Sonne strahlte wieder von ihrem blau - weiß marmorierten Himmel, als Ergils Aufmerksamkeit von einer dunklen Linie gefesselt wurde, die sich im Westen langsam aus dem Horizont schob. Er stand neben Feuerwind. Se i ne Rechte, die auf der Kruppe des Pferdes lag, tätschelte hin und wieder das rotbraune Fell. Schekira war gerade auf Erkundungsflug. Dormund angelte.
»Das ist der Grotwall«, sagte Falgon, dem der Blick seines Zöglings nicht entgangen war.
»Es soll das größte Gebirge von Mirad sein.«
»Nein. Das ist der Weltenbruch.«
»Ich habe eigentlich das Herzland gemeint. Der Wall im Westen gehört für mich nicht mehr dazu. Er ist irgendwie… außerhalb der Welt. Harkon Hakennase schreibt, er sei unüberquerbar. Niemand weiß, was hinter dem Weltenbruch liegt.«
»Außer vielleicht den Sirilim. Rede ich gerade mit dem kleinen Philosophen? Würde mich wundern, wenn Twikus solche neunmalklugen Weisheiten von sich gäbe.«
»Ich möchte die Welt nur verstehen, Oheim.« Ergil nahm den Blick von dem dunklen Streifen und sah Falgon fragend an.
»Ich dachte immer, das Volk der Weisen sei über das Nimmermeer ins Herzland gekommen, also aus dem Osten.«
»Das mag stimmen. Meine Bemerkung zielte eigentlich in eine andere Richtung.«
»Ah!« Ergil hob das Kinn und wandte sich wieder nach Westen.
»D u weißt , wovo n ic h spreche?«
»Von der Gabe der Durchdringung.«
»Du hörst dich nicht an, als ob dich dieses Thema sonderlich interessierte.«
»Ich bin kein Sirilo. In mir ist keine Welt zusammengefaltet. Ich kann dir daher auch nicht sagen, was sich hinter dem Weltenbruch befindet.«
»Du sträubst dich immer noch gegen deine Natur, mein Sohn, obwohl sie längst in dir erwacht ist. Ihr verdanke ich mein zweites Leben.«
Die dunkle Linie hatte einige Zacken bekommen, als Ergils Blick sich wieder von ihr löste. »Das ist nur ein Wetterleuchten im Himmel meines Bewusstseins, nett anzusehen, aber auch nicht mehr. Twikus ist übrigens derselben Ansicht. Wäre es wirklich so prächtig um unsere Gaben bestellt, dann hätte Trigas Speer deine Haut nicht einma l geritzt.«
Der Alte musterte sein Gegenüber länger, als diesem angenehm war. »Vielleicht hatte es so kommen
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