Mirad 02 - Der König im König
nicht mehr erreichen«, sagte Twikus.
Der Brustkorb des Mazars blähte sich und die Luft entwich seinen Atemwegen mit einem schnaubenden Geräusch. »Nichts dergleichen werdet Ihr tun!«
»Aber…«
»Nein!«, zischte Oramas.
Am liebsten hätte Twikus dem Mazar den Bogen vor die Füße geworfen. Er wusste zwar nicht genau, wie sich Kaguan absetzen wollte, aber er rechnete mit einer weiteren List des Zoforoths. Als der Moment dann tatsächlich kam, war er trotzdem überrascht.
Plötzlich hob Kaguan das Kristallschwert in die Höhe. Ein paar Dutzend Männer stöhnten vor Entsetzen auf. Der Mazar hielt den Atem an. Die dunkle Klinge fuhr herab, aber nicht um die Prinzessin zu töten, sondern sie bohrte sich – so schien es jedenfalls – geradewegs ins Straßenpflaster. Nishigo versuchte sich loszureißen, aber Kaguan hatte genug Hände frei, um sie daran zu hindern; er hob sie einfach hoch, als wäre sie nur eine Strohpuppe. Es folgten ein paar ruckartige Bewegungen an der Waffe. Dann trat er einen Schritt zurück und verschwand mit dem zappelnden Mädchen im Boden.
19
DIE NEUNTE KAMMER
Das Licht des Morgens hatte für Ergil etwas Bedrohliches. Es rieselte durch die Rosenholzgitter in einem Dachgemach, das zu den Privaträumen des Mazars gehörte. Oramas III. pflegte Ratsversammlungen von staatstragender Bedeutung üblicherweise in repräsentativen Sälen abzuhalten, aber im Moment war er hauptsächlich ein besorgter Vater und erst in zweiter Linie der Herrscher von Susan.
Ergil konnte sich aus verschiedenen Gründen nicht über die Morgendämmerung freuen. Vor allem fühlte er sich von seinem Bruder im Stich gelassen. Twikus sei, wie er ihm glaubhaft versichert hatte, mit den Nerven am Ende. Dabei habe alles so wunderbar begonnen im Palastgarten unter dem Sternenzelt. Dort sei er »dem Mädchen aus dem Traum« begegnet.
Erst im Laufe der verworrenen Schilderungen seines Bruders war Ergil zu der Einsicht gelangt, es müsse sich dabei um dieselbe Person handeln, deren Gesicht auch ihn verzaubert hatte, nachdem er im Krankenzimmer erwacht war. Nishigo und nicht Schekira sei das Mädchen, das sie schon im Großen Alten in ihren Träumen erblickt hätten, versicherte Twikus aufgeregt. Sein weiterer Bericht vom Verlauf der Nacht war dann ziemlich deprimierend gewesen.
Durch den Befehl des Mazars zur Untätigkeit verurteilt, habe er mit ansehen müssen, wie Kaguan einen Gitterrost aufbrach und samt der Prinzessin in einem Abwasserschacht verschwand. Einerseits gab Twikus sich selbst die Schuld an Nishigos Entführung, andererseits konnte er die Entscheidung des Mazars nicht verstehen, die alles nur noch schlimmer ge macht habe. Wenn ich Oramas noch länger ansehen muss, vergesse ich mich. Versuch du zu retten, was noch zu retten ist. Mit diesen Worten war der Ärmste in der Versenkung verschwunden.
Und jetzt saß Ergil im Dachgemach eines sich vor Trauer und Verzweiflung ohnmächtig fühlenden Machthabers und versuchte diesem Hoffnung einzuflößen. An die Stelle des barschen Tons, den der besorgte Vater Twikus gegenüber angeschlagen hatte, war Respekt getreten. Hier in Silmao, wo der Sage nach einst die Sirilim zum ersten Mal das Herzland betreten hatten, stand das Volk der Schönen in hohem Ansehen.
Immer wieder musste Ergil wie hypnotisiert auf die Phiole starren, die Oramas III. um den Hals trug. Er fragte sich, welche Bewandtnis es damit hatte. Gehörten die Goldkette und das Glasfläschchen zu den Insignien der Herrscher von Susan? Oder handelte es sich bei der bernsteinfarbenen öligen Flüssigkeit lediglich um ein Duftwasser zur Bekämpfung unwillkommener Gerüche? Múria hatte ihren Schüler schon zweimal in die Rippen gestoßen und flüsternd ermahnt, er solle Oramas nicht so anglotzen.
Als Vertreter der Gemeinschaft des Lichts waren außerdem Falgon und Dormund zugegen. Überdies hatte der Mazar den Obersten der Leibwache, General Koichi, sowie den Leibarzt Mujo hinzugezogen. Letzterer war, wie Ergil seit einer guten Stunde wusste, Múrias Gewährsmann in Silmao; an ihn hatte sie von Bjondal aus einen Botenfalken geschickt. Zwei weitere Personen im Raum wurden als solche von den Susanern nicht wahrgenommen. Die eine saß als Falke auf Ergils Schulter und die andere klammerte sich als Umhang an ihm fest.
Die Gruppe hatte sich um einen Tisch aus rotbraunem Holz versammelt, der kaum höher als der Durchmesser eines Speisetellers war. Man saß auf Kissen inmitten einer Landschaft
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