Mirad 02 - Der König im König
er dort entdeckte, überforderte vorübergehend sein Begriffsvermögen.
Er glaubte zu träumen, alles andere wäre zu phantastisch, um es einem gesunden Verstand als Wirklichkeit zuzumuten. Hunderte strahlender Schiffe reihten sich bis zum Horizont aneinander, Segler, wie er sie noch nie gesehen hatte. Trotz ihrer enormen Größe – sie besaßen vier, fünf oder sogar sechs Masten – wirkten sie so elegant und schlank wie Möwen.
Der ewige Schwarm. Jetzt erst verstand er den Namen des alten Liedes richtig. Die Schiffe waren so weiß und anmutig wie Schwäne. Ihre Formen hatten nichts gemein mit den oft plumpen Gebilden, die Menschenhände schufen, sondern waren glatt und weich gestaltet wie lebendige Wesen der See. Hatte ein unstillbares Verlangen nach Schönheit oder ein geniales Gespür für Vollkommenheit diese stolzen Segler hervorgebracht? Vermutlich beides, dachte Ergil – er konnte den Schiffen ansehen, wie schnell sie waren.
Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfüllte ihn, heftiger noch als die zuvor empfundene Geborgenheit im Hain der Ginkgos. Was er hier vor sich sah, war ein Teil seiner eigenen Geschichte. In seinen Adern floss das Blut Jazzar-sirils, der auf einem dieser Schiffe das Nimmermeer überquert…
Mit einem Mal wurde Ergil von dem unbändigen Verlangen getrieben, das Schiff seines Urahnen zu finden. Sein Geist schwebte dicht über die Flotte dahin. Am Bug jedes Seglers befand sich ein anderes Symbol. Waren es die Wappen der Sirilimhäuser? In manchen Zeichen konnte er die Gestalt von Tieren und Pflanzen erkennen. Vielleicht dienten die Bilder nur der einfachen Unterscheidung, so wie eine Namenstafel. Nicht die Gleichförmigkeit der Gefährte ließ eine solche Maßnahme als geraten erscheinen, sondern im Gegenteil ihre verwirrende Vielfalt: Jedes unterschied sich von den anderen. Eine bizarre Frage huschte durch Ergils Bewusstsein: Sind die Schiffe vielleicht tatsächlich lebendige Wesen, jedes so einzigartig wie ihre Besitzer?
Als er das Ende des »Schwarms« erreichte, wollte er seine Suche nach dem Flaggschiff des großen Sirilimkönigs schon aufgeben, als ihm plötzlich ein silbrig funkelndes Symbol ins Auge stach.
Ein herzförmiges Ginkgoblatt.
Instinktiv wusste er, dass er Jazzar-sirils Schiff gefunden hatte, obwohl es mit nur vier Masten eher klein war. Der glatte Rumpf erinnerte Ergil an einen Haifisch. Zweifellos war es das schnellste Schiff im »Schwarm«. Und wenn man sich’s recht überlegte, lag es genau an der richtigen Stelle: Im Falle eines raschen Aufbruchs mit Kurs Nimmermeer musste es nicht erst an der gesamten Flotte vorüberziehen, sondern konnte sofort die Führung übernehmen.
Ergil versuchte sich zu orientieren, was angesichts des veränderten Uferverlaufs nicht ganz einfach war. Nach seiner Schätzung lag das Schiff unweit des späteren Hafens von Silmao. Jedenfalls hoffte er das. Es wäre zu schade, wenn das Schiff nach einer mörderischen Kraftanstrengung auf irgendeinem Marktplatz in der Stadt stranden würde, zu nichts anderem nütze, als ahnungslose Bürger zu Tode zu erschrecken.
Behutsam drang Ergil in das Schiff Jazzar-sirils ein. Zu seiner Überraschung entdeckte er dabei weitere Anzeichen für seine Vermutung, es könnte sich um ein lebendiges Wesen handeln. Die Segel waren nicht aus Tuch, sondern glichen mit ihren fein verästelten Fasern riesigen Blättern. Im Rumpf fand er keine einzige Planke. Er schien in einem Stück gewachsen zu sein, fest und zugleich flexibel – eine riesige Kreuzung aus Schildkrötenpanzer und Vanilleschote. Der Kiel lief nach unten lang und schmal aus wie eine große Flosse. Überdies fand Ergil nirgends Nägel und nur selten Zapfen und Keile, mit denen einzelne Teile des Gefährts zusammengehalten wurden. Alles schien in- und miteinander verwachsen zu sein. Es kostete ihn immer größere Willenskraft, seine Neugier zu zügeln und sich nicht mit der Erforschung dieses geheimnisvollen Schiffes zu verzetteln. Dazu würde er immer noch Gelegenheit haben. Zunächst musste er es aus dem Versteck im Faltenwurf der Welt herausholen.
Als er in der Zeit die Richtung wechselte, sah er für einen Moment eine Anzahl anmutiger Gestalten. Die Sirilim! Obwohl er sich nicht erlaubte innezuhalten und das Bild mit Farbe zu beleben, begann sein Herz trotzdem heftig zu schlagen. Nun erst, wo er die Schönen gesehen hatte, verstand er, warum sie auf solchen Schiffen fuhren und derartige Häuser bewohnten. Alles passte harmonisch
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