Mirad 02 - Der König im König
obwohl er sich mit Grausen daran erinnerte, konnte er seinen Blick nicht abwenden. Der Wächter wankte und gab erstickte Laute von sich. Verzweifelt riss er an dem Netz, das ihm die Luft abschnürte, aber damit fügte er sich nur noch mehr Schmerzen zu, denn die Körperfäden des Weberknechtes sonderten eine Verdauungsflüssigkeit ab, die alles auflöste, was mit ihr in Berührung kam.
Nach kurzer Zeit war der Kampf vorüber. Nisrah löste sich von dem Wagg. Dessen Köpfe waren nur noch zwei bleiche Schädel.
»War das wirklich nötig?«, raunte Ergil entsetzt, obwohl er wusste, dass sein Gespinstling ihm derzeit nicht antworten konnte. Er blickte zu den grölenden Räubern hinüber. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihren halb verdauten Kameraden finden würden. Und dann…?
Mitten in seine bangen Gedanken hinein geschah plötzlich etwas Unerwartetes. Ein heftiges Wogen ging durch das Geäst der Bäume. Etliche Zweige neigten sich tief zu den Räubern hinab. Die längsten und kräftigsten Zungen verwandelten sich in Fangarme. Sie packten die Schurken an Armen und Beinen und rissen sie in die Höhe.
Unter den Gejagten entstand ein lautes Geschrei. Anstatt den Schutz der Feuer zu suchen, rannten sie panisch durcheinander. Genau diese Reaktion schienen die Zungenbäume erwartet zu haben, denn sobald jemand in ihre Reichweite kam, schnappten sie zu. Bald waren alle Räuber eingefangen und schrien hoch über dem Waldboden um Hilfe.
Ergil war von dem bizarren Geschehen derart gefesselt, dass er die Rückkehr des Netzlings anfangs nicht bemerkte. Erst als er wieder das Ziehen im Nacken spürte, wurde er sich Nisrahs Nähe bewusst. Ergil konnte einen Schauer nicht unterdrücken.
Keine Angst. Dir werde ich nichts tun, sagte der Weberknecht rasch.
Entschuldige, aber du hast gerade einen Wagg bis auf die Knochen abgenagt. Damit muss man erst mal fertig werden.
Leider musste ich das tun. Nachdem ich mich auf ihn gestürzt hatte, konnte ich seine Absichten erkennen. Im Blutrausch war er. Töten wollte er euch alle.
Und was geschieht da gerade mit seinen Kameraden? Die Zungenbäume werden sie doch nicht etwa auch…?
Nein, nein. Keine Sorge. Sie halten die Halunken nur oben in ihren Kronen fest, bis wir in sicherer Entfernung sind.
Aber sie werden uns verfolgen.
Nach einem Mond?
Die Bäume wollen sie einen ganzen Monat lang gefangen halten?
Findest du, das ist eine zu strenge Strafe? Die Bande bekommt sogar Wasser und etwas zu essen.
Eigentlich ist es sogar ein mildes Urteil, wenn man bedenkt, mit wem sie sich verbündet haben. Wäre ihr Plan gelungen, hätten sie abertausende ins Dunkel gestoßen. Meinst du, ich kann mit den Bäumen sprechen?
O gewiss! Warte, ich stelle eine Verbindung her.
Während Nisrah einige Körperfäden in den Pelz des Baumes versenkte, ließ Ergil die Stricke an seinen Händen und Füßen altern. Bald waren sie so mürbe wie zusammengebackener Sand. Eine Bewegung genügte, um sie von ihm abfallen zu lassen. Anschließend wiederholte er die Prozedur bei seinen Gefährten. Unvermittelt vernahm er ein Kichern, das weder von Twikus noch von Nisrah zu kommen schien.
Ist da wer?, rief er. Die Antwort ließ nicht lang auf sich warten.
Die Dummköpfe kitzeln. Es hörte sich an, als spräche ein Chor kleiner Mädchen in Ergils Kopf.
Wer bist du?, fragte er.
Wir sind Soldina, das »Meer der Zungen«.
Das Meer der…? Heißt das, ich spreche mit dem ganzen Wald?
Er hörte ein Kinderlachen wie aus tausend Kehlen. Wald! Was für ein komisches Wort. Wir sind kein Wald, sondern das »Meer der Zungen«, die Vielen, die trotzdem alle eins sind. Wer von euch Beinigen könnte uns besser verstehen als ihr zwei?
Hat Nisrah euch von uns erzählt?
Der Weberknecht? Soldina lachte. Nein, das war gar nicht nötig. Wir haben Euch und Euren Bruder schon aus der Ferne bemerkt und uns auf euer Kommen gefreut.
Ach, daher der Lärm.
Was habt Ihr gesagt?
Nichts. Ich wollte euch nur für unsere Rettung danken, Soldina.
Das haben wir gerne getan, Kind der zwei Völker. Es ist lange her, dass Ajuga uns der Obhut der Sirilim übergab und…
Ajuga?, unterbrach Ergil das Meer der Zungen.
Ajuga der Jüngere ist der König der Wurzeligen von Mirad, erklärte Soldina, womit sie sich auf Pflanzen aller Art bezog.
Oh! Ergil schwirrte der Kopf. Er verkniff sich die Frage nach einem Ajuga dem Älteren und sagte stattdessen: Dann seid ihr also mit den Sirilim hierher gekommen?
Ja. Sie haben uns lange liebevoll
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