Mirad 02 - Der König im König
keine andere Wahl. Gelegentlich ragten die Spitzen der fleischigen Blätter so tief herab, dass die Reiter ihre Köpfe einziehen mussten, um sich das unangenehme Gefühl des Abgelecktwerdens zu ersparen. Manchmal nutzten aber selbst solche Verrenkungen nichts. Immer wieder folgten die feuchten Zungen den sich duckenden Reitern und strichen tastend über sie hinweg. Sich derlei Aufdringlichkeit vom Halse zu halten, war auf die Dauer ziemlich ermüdend. Die von Falgon angemahnte Wachsamkeit ließ immer mehr nach.
Bis plötzlich der Zwerg auftauchte.
Genau genommen ließ sich schwer einschätzen, ob es sich bei dem kleinen Mann tatsächlich um einen Zwerg handelte. Er war jedenfalls nicht größer als drei Fuß und hatte ein gnomenhaftes Gesicht: lange spitze Nase, riesige Ohrläppchen, ausnehmend viele Falten, eine Anzahl beachtlicher Warzen, auf denen Haarbüschel wuchsen, und bärlauchgrüne Augen. Der Zwerg trug ein zu langes Kettenhemd und einen kegelförmigen Helm, unter dem verfilztes, grünbraunes Haar hervorwucherte. Er schien unbewaffnet zu sein. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, mit seitwärts ausgestreckten Armen mitten auf dem Weg zu stehen, um die Reiter zum Anhalten zu bewegen.
Falgon hätte den Wicht mühelos in den weichen Waldboden stampfen, ihn auf die Hörner seines Krodibos nehmen, über ihn hinwegsetzen oder einfach herumreiten können, aber er stufte die Erscheinung offenbar als minder gefährlich ein und zügelte sein Tier.
»Möge Eure Hoffnung nie sinken«, begrüßte er den Kleinen.
»Und möge die Eure zur Sonne Eures Lebens werden«, antwortete der Zwerg mit einer schmeichelnden, auffallend kehligen Stimme.
»Was können wir für Euch tun, Nachbar?«, fragte Falgon.
»Zunächst würdet ihr mir alle einen großen Gefallen tun, wenn ihr euch eurer Waffen entledigen könntet.« Der breit grinsende Mund des Zwerges reichte fast von einem Ohr zum anderen.
Einen Herzschlag lang starrte ihn Falgon fassungslos an. Dann wurde ihm bewusst, dass der Kleine es ernst gemeint hatte. Fast gleichzeitig griffen die Gefährten zu ihren Waffen.
»Lasst das, wenn ihr nicht von tausend Pfeilen gespickt werden wollt!«, warnte der Kleine rasch und riss die rechte Hand hoch. Augenblicklich kam Bewegung in den Wald. Überall tauchten hinter den pelzigen Stämmen Bogenschützen auf, ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Menschen und Waggs.
Die Androhung von tausend Pfeilen erschien Ergil übertrieben – es waren höchstens zweihundert Wegelagerer –, doch die Überzahl war bei weitem zu groß, um einen überraschenden Befreiungsschlag zu wagen. Selbst mit seinen Sirilimkünsten konnte er nicht alle Gegner auf einmal kampfunfähig machen.
»Die Waffen. Auf den Boden damit!«, befahl der Zwerg in scharfem Ton.
Der Falke, der bis eben in Schneewolkes Geweih gesessen hatte, erhob sich flatternd in die Lüfte.
Ergil blickte Schekira nach. Um die Aufmerksamkeit der Schützen von ihr abzulenken, sagte er laut: »Tut, was er verlangt.« Zügig entledigte er sich des Bogens, der Pfeile, seines Jagdspeeres sowie des Dolches. Die anderen Gefährten folgten seinem Beispiel.
Der Zwerg trat drei oder vier Schritte zur Seite, um dem König besser in die Augen sehen zu können. »Haben wir nicht etwas vergessen, Majestät?«
Ergil erschauderte. Schlagartig wurde ihm klar, dass dies kein gewöhnlicher Überfall war. Kaguan musste die wilden Gesellen gedungen haben, um sich die Verfolger vom Hals zu schaffen. Daher auch die verlassene Karawanserei: Sie war vermutlich das Nest dieser Räuberhorde. Der Zoforoth hatte ihnen den perfekten Ort für ihren Hinterhalt genannt: im Zungenwald, wo die Sinne der Könige wie betäubt sind. Und er hatte ihnen noch mehr verraten.
»Das gläserne Schwert!«, verlangte der Kleine.
Ergil öffnete die Schlaufe. Grimmig funkelte er den frechen Zwerg an. Sollte er ihn in ein Häuflein Staub verwandeln? Oder in einen Neugeborenen? Aber dann würden die übrigen Schurken mit Sicherheit ihre Pfeile abschießen…
»Keine Dummheiten, Majestät!«, warnte der Anführer, als habe er dessen Gedanken erraten. »Wenn ich auch nur den kleinsten grünen Funken in dem Ding sehe, dann werdet Ihr und Eure Begleiter sterben.«
Der König ließ behutsam den durchsichtigen Gürtel neben den anderen Waffen zu Boden gleiten. Er konnte die nervöse Anspannung der Schurken spüren. Es fehlte nicht viel – der überraschende Schrei eines Tieres oder eine vorwitzige Blattzunge, die einen der Räuber
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