Mirage: Roman (German Edition)
führen.«
Die begleitende Karikatur zeigte einen Panzer, der im Vorgarten eines Hauses parkte. Der Panzerführer stand nebenseinem Fahrzeug und streckte lächelnd eine Freundeshand aus, aber der Hausbesitzer, ein mürrischer Schwarzer mit einem Dreispitz auf dem Kopf, hielt die Arme verschränkt. Im Hintergrund sah man eine Frau aus dem Fenster des Hauses schauen und ein ängstliches Gesicht machen – was ihr nicht zu verdenken war, fand Mustafa, wo doch eine Kanone auf ihr Wohnzimmer zielte.
»Geradezu genial, nicht?«, sagte Amal. Sie zeigte auf den Herausgebernamen auf der Rückseite der Broschüre. »Die Amerikanische Kulturinitiative – ich erinnere mich, wie meine Mutter mir einmal den Haushaltsposten für dieses Machwerk gezeigt hat. Die haben allein für Recherchen drei Millionen Rial bekommen. Drei Millionen Rial, bloß um herauszufinden, dass die Leute es einem nicht danken, wenn man mit einem Panzer in deren Vorgarten fährt! Das ist sinnvoll ausgegebenes Geld, meinst du nicht auch?«
»Das hätte es sein können«, sagte Mustafa, »wenn jemand in der Koalition die Broschüre gelesen hätte.«
Zwei Stunden später überflogen sie die marokkanische Küste. Als unter der Frachtmaschine der Atlantik auftauchte, öffnete Mustafa einen Hefter mit dem Aufdruck STRENG GEHEIM. Darin befand sich eine Zusammenfassung und die teilweise Abschrift der Vernehmung Lyndon Baines Johnsons.
Die Koalition hatte nicht vorgehabt, den amerikanischen Präsidenten lebend zu fangen. Der Eröffnungszug des »Schock-Einsatzes« war ein versuchter Enthauptungsschlag gewesen: Arabische Tarnkappenbomber mit Stützpunkt Dallas hatten das Weiße Haus, das Kapitol und sieben im ganzen District of Columbia verstreute Befehlsbunker ins Visier genommen. Die Angriffe auf das Kapitol und die Bunker waren erfolgreich gewesen, aber die auf das Weiße Haus abgeworfenen »intelligenten Bomben« hatten ausnahmslos entweder das Ziel verfehlt oder nicht gezündet –eine statistische Unwahrscheinlichkeit, die ans Wunderbare grenzte und den Kommandeur der Koalitionsluftstreitkräfte davon überzeugte, dass er sich einen zweiten Angriff sparen konnte.
Auch LBJ muss im Überleben des Weißen Hauses eine göttliche Fügung gesehen haben. Anstatt unterzutauchen, sobald die Invasion anfing, blieb er in der herrschaftlichen Protzvilla, bis Bodentruppen eintrafen, um ihn gefangen zu nehmen. Über die darauf folgenden Ereignisse wurden zwei unterschiedliche Geschichten erzählt. Nach der einen – von FOX News verbreiteten und von der arabischen Regierung als Propaganda abqualifizierten – Version wurde die 4. VAS-Infanterie, als sie in das Weiße Haus eindrang, von einem todesverachtenden Johnson empfangen, der sie im Oval Office erwartet hatte. Der Präsident salutierte vor den Soldaten, klopfte dann mit seinem Gehstock gegen den 1000-Kilo-Blindgänger, der seinen Schreibtisch zertrümmert hatte, und fragte: »Haben die Herren das hier verloren?«
Laut der anderen Version, die ein Unteroffizier dem Fernsehsender al-Jazira erzählte, wurde Johnson im Obergeschoss vorgefunden, im Lincoln-Schlafzimmer kauernd. Ängstlich und verwirrt habe er sich anfangs, wie es schien, die Anwesenheit ausländischer Soldaten in seinem Haus nicht erklären können. »Was tun Sie hier?«, soll er immer wieder gefragt haben. Mustafa hatte von jeher den Verdacht gehabt, diese Version der Ereignisse sei ebenfalls Propaganda, passte das Bild eines senilen Diktators doch einfach zu glatt zur offiziellen Begründung des Krieges. Doch nach Auskunft der Akte, die er in Händen hielt, stimmte die Geschichte – abgesehen von einem kleinen Detail: Die Frage, die Johnson den Soldaten stellte, lautete nicht »Was tun Sie«, sondern »Was tue ich hier?«
Die Koalitionsführer debattierten darüber, was jetzt, wo er gefangen war, mit LBJ geschehen sollte. Der Konsens ging dahin, dass er den Amerikanern übergeben werdensollte, damit ihm, sobald das Land wieder eine funktionierende Justiz hätte, der Prozess gemacht werden könnte; aber bevor dies geschah, mussten gewisse Fragen beantwortet werden – bezüglich des 9. November und der unauffindbaren Massenvernichtungswaffen. Ein paar habituelle Vertreter eines harten Kurses sprachen sich dafür aus, ihn ins Gefangenenlager Chwaka-Bucht auf Sansibar zu schicken, aber dieser Plan wurde abgelehnt, weil man befürchtete, der vierundneunzigjährige Johnson sei zu gebrechlich, um den Flug und erst recht die Standardvernehmung zu
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