Mirage: Roman (German Edition)
Änderungen, beschafft hatte. Samir und Amal hatten ähnliche Lesepakete dabei.
»Startklar«, meldete der Pilot.
Eine Besonderheit der Frachtmaschine bestand darin, dass die Passagiersitze, anders als in Verkehrsflugzeugen, nach hinten gerichtet waren; so konnte Mustafa, als die Maschine abhob, bequem durch das Fenster zuschauen, wie erst die Eukalyptuspflanzung und dann die staubig grüne Flickendecke von Tripolis mehr und mehr zurückfielen. Bald waren sie nicht mehr zu sehen, und die Maschine flog westwärts über eine gelblich braune Landschaft, den Felsen- und Steinboden des noch ausstehenden gewaltigen Waldes.
Mustafa wandte sich seiner Lektüre zu.
Der vom Politologischen Institut der Universität des Sudan in Khartum herausgegebene Bericht trug den Titel »Farbenblind: Über die Rolle der Rasse beim amerikanischen Aufstand«. Er begann mit einer kurzen Zusammenfassung der Geschichte der Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß im Amerika des 20. Jahrhunderts. Während der ersten zwei Drittel des Jahrhunderts hatten die CSA eine Form von Apartheid praktiziert – ganz offen in den südlichen Staaten und eher verborgen im Norden, wo laut dem Bericht »die weißen Bürger die Vorteile rassisch begründeter Bevorzugung ohne das dazugehörige schlechte Gewissen haben wollten«.
Ein Bürgerrechtsgesetz, das jede Form von Rassendiskriminierung für illegal erklärte, war von den Kennedys ausgearbeitet und von LBJ im ersten Jahr seiner Herrschaft unterzeichnet worden. »Aussagen Johnsons und seiner engsten Mitarbeiter lassen vermuten, dass er durch diese Maßnahme, ebenso wie durch seine versuchte Eroberung von Texas, glaubte, den Willen Gottes zu verwirklichen. Seine Feinde warfen ihm zynischere Motive vor. Besonders im Süden wurde das Bürgerrechtsgesetz als ein Vorwand angesehen, um die Macht der Unionsregierung auszuweiten und ›die Rechte der Staaten‹ zu beschneiden.« Mehrere versuchte Aufstände waren von Truppen des Bundes im Keim erstickt worden. Das Justizministerium zog politische Unruhestifter – weiße ebenso wie schwarze – aus dem Verkehr und schickte sie an die Front des Herzlandkrieges. »Während Johnson es schaffte, das amerikanische Apartheidsystem zu zerschlagen – die einzige wirklich bewundernswerte Leistung seines Regimes –, bereitete er damit dem amerikanischen Rassismus keineswegs ein Ende. Vielmehr deckte er den Rassenhass seiner Untertanen einfach zu, und so, im Verborgenen, schwärte dieser jahrzehntelang und wartete auf die Gelegenheit, wieder auszubrechen. Diese ergab sich schließlich 2003. Die Besetzung Amerikas durch die Koalition reduzierte drastisch den Einfluss der Union auf die Einzelstaaten. Sie schuf außerdem eine Situation, in der die Äußerung von Vorurteilen gegen dunklerhäutige Menschen nicht nur als politisch vertretbar, sondern als patriotisch angesehen wurde …«
Bühne frei für Bulos ad-Darir, einen lieben Sohn der Nationalen Partei Gottes und der Mann, der dazu auserwählt wurde, den Wiederaufbau Amerikas während des entscheidenden ersten Jahres nach der Invasion zu beaufsichtigen. Er war eine Katastrophe und erließ eine Reihe von unpopulären Verfügungen, die jede etwaige, ohnehin nur sehr schwache Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zur Demokratie vernichteten.
Die berüchtigtste unter diesen Verfügungen war Erlass Nr. 2, der die »Minutemen« – die amerikanische Nationalgarde – auflöste und damit eine halbe Million schwerbewaffnete Christen arbeitslos machte. Erlass Nr. 3, die Entlassung sämtlicher Mitglieder der Christlich-Demokratischen Partei aus der Bundesverwaltung, ergab weitere zweihundertfünfzigtausend Erwerbslose. »Da viele dieser Angestellten im öffentlichen Dienst ebenso wie viele der in Washington, D. C., stationierten Minutemen Afroamerikaner waren«, erklärte der Bericht, »wurden diese Erlasse weithin als der Versuch der Besatzungsmacht angesehen, sich mit der weißen Mehrheit gegen die schwarze Minderheit zu verbünden. Wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, so hätten ad-Darirs Grundsatzentscheidungen, wenn schon keine moralische, so doch eine pragmatische Berechtigung gehabt. Im Nachhinein scheint es jedoch, als hätte er aus Unwissenheit so gehandelt und damit ohne jede Notwendigkeit ein gewaltiges Potenzial an Rassenspannungen erzeugt.«
Alle Sympathien, die ad-Darir unbeabsichtigt bei den weißen Amerikanern gewonnen hatte, lösten sich mit Erlass Nr. 5, dem Verbot der Herstellung und des Vertriebs
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