Mirage: Roman (German Edition)
zu zeigen, besaßen die meisten Amerikaner eine kulturell bedingte, tiefsitzende Abneigung gegen Leute, die ihnen ihr Zuhause auf den Kopf stellten; wissenschaftliche Studien hatten allerdings ergeben, dass die Anwesenheit weiblicher Personen zu einem Aggressionsabbau beitragen konnte. Löwinnen wurden Marineinfanteristen, die in der Roten Zone auf Patrouille gingen, paarweise als Begleitung mitgeschickt. Wenn ein Haus nach Waffen oder Aufständischen durchsucht wurde, waren es die Löwinnen, die die Befragung der Bewohner durchführten, wodurch die Ehre der Frauen gewahrt und die Gereiztheit der Männer abgemildert wurde; sie bekamen oft noch da Antworten, wo einmännlicher Fragesteller nur sturem Schweigen oder gar Gewalt begegnet wäre. Da die Rote Zone nun einmal die Rote Zone war, kam es gelegentlich trotzdem noch zu Gewalt, aber wie ihr Spitzname andeutete, konnten die Löwinnen auch kämpfen, und das mit einer Wildheit, die Aufständische überrumpelte.
Einquartiert waren sie, ebenso wie die Angehörigen der Marineinfanterie-Garnison, in dem ehemaligen Büro-Hotel-Komplex, der an die arabische Botschaft angrenzte. Die meisten männlichen Infanteristen wohnten in Appartements in den Gebäuden Watergate-Ost und Watergate-Süd; die Löwinnen waren in den obersten zwei Etagen des Watergate Hotels untergebracht, die in ein Frauenwohnheim mit Hochsicherheitsstandards verwandelt worden waren.
Es war wie auf der Uni, nur mit mehr Schusswaffen. Amal teilte sich ein Zimmer mit einem Mädchen aus Nablus, das Zinat hieß. Gerade mal neunzehn, war Zinat ihren sechs Brüdern zum Militär gefolgt, um sich dort ein Stipendium für ein Maschinenbaustudium zu verdienen. Als Amal fragte, was für Maschinen sie speziell interessierten, sagte Zinat: »Autos. Schnelle Autos.«
Zinat hatte ein Bild ihrer Familie über ihr Bett geklebt. Ein zweites Foto zeigte Zinat und weitere Löwinnen zusammen mit der persischen Kriegsberichterstatterin Christiane Amanpur, die ein paar Monate zuvor einen Sonderbericht über die Fraueneinheit gedreht hatte. Zinat stand zur Rechten von Amanpur, in den Armen ein Scharfschützengewehr Kaliber 1,25 mm, das fast so groß wie sie selbst war.
»Nehmen Sie diese Waffe auf Patrouille mit?«, fragte Amal.
»Nein, das war nur für das Foto«, sagte Zinat etwas wehmütig. »Wir waren auf dem Kampfübungsplatz, und ich habe dem Hauptfeldwebel die Erlaubnis abgeschwatzt, mit dem Ding zu posieren … Wenn Sie möchten, könnte ich Siewahrscheinlich zum Übungsschießen mitnehmen.« Sie hob eine Augenbraue. »Die haben dort auch Flammenwerfer.«
»Klingt unterhaltsam«, sagte Amal, der weniger an Flammenwerfern gelegen war als daran, Salim ausfindig zu machen. Aber vielleicht konnte ihr dieses Mädchen ja dabei helfen. Was sie tun würde, wenn sie tatsächlich ihren Sohn gefunden hätte … Tja, daran arbeitete Amal noch. Ein Schritt nach dem anderen.
Das Wecksignal für die Soldatinnen und Soldaten war ein Muezzinruf, der über die Lautsprecheranlage des Watergate-Komplexes abgespielt wurde. Nachdem sie sich gewaschen hatten, folgte Amal Zinat zum Gesellschaftsraum im obersten Stock, der als der Frauengebetsraum fungierte. Die Teilnahme an den Gebeten war freiwillig, aber es sah so aus, als wäre ein Großteil der Löwinnen, abgesehen von den wenigen Christinnen oder Jüdinnen, anwesend. In der Mehrheit waren sie in Zinats Alter, aber es waren auch eine Reihe älterer Berufssoldatinnen dabei.
Die Kommandantin der Löwinnen war eine zweiundfünfzigjährige Jemenitin mit Namen Umm Husam, die auch als Vorbeterin fungierte. Als die Letzten ihrer Untergebenen den Raum betraten, wandte sie sich zur Nordostwand und hob die Hände zu beiden Seiten des Kopfes.
»Gott ist groß«, begann Umm Husam.
Der Hauptspeisesaal des Watergate Hotels war jetzt eine Kantine. Ein Teil des Raums war für die Löwinnen reserviert. Während Christiane Amanpurs Besuch war dieser Bereich durch Wandschirme abgesperrt worden. Heute, wo keine Berichterstatter anwesend waren, hatte man die Stellwände durch orangefarbene Pylonen ersetzt, und selbst die wurden weitgehend ignoriert. Die Frauen und Männer fraternisierten ganz offen und ernteten dafür nur gelegentlich einen missbilligenden Blick von Umm Husam.
An einem Tisch direkt an der Männerseite der Demarkationslinie frühstückten Mustafa, Samir und Amal zusammen mit Oberst Yunus, Zinat und zwei männlichen Infanteristen. Mustafa erkundigte sich nach den afroamerikanischen
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