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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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werden würde. Die Uniform stimmte nicht – er war Kadett beim Heer gewesen, nicht bei der Marineinfanterie –, aber abgesehen davon hätte er gerade dem Familienalbum entstiegen sein können, so unheimlich war die Ähnlichkeit. Auch sein ganzes Verhalten – die Art, wie er stand, die Art, wie er den Kopf neigte, wenn er jemandem zuhörte, die Leichtigkeit, mit der er lachte, die mehr und mehr schwinden würde, je länger die Zeit und Saddam ihn zermürbten –, alles war noch so, wie Amal es in Erinnerung hatte.
    Auch Zinat sah den Geist. Während Amal regungslos dasaß aus Angst, die Vision könnte sich bei der leisesten unbedachten Bewegung verflüchtigen, stand die Löwin auf, hielt sich die hohlen Hände an den Mund und rief: »He! Salim! Hier rüber!«
    »Ziel rechts!«
    Dieser Minuteman war ein weißer Amerikaner, mit großen Zähnen und einer großen Nase, zornigen Augen und gewalttätigen Augenbrauen unter einem Dreispitz, der eine Nummer zu klein für ihn aussah. Wie das Restaurant, in dessen Fenster er so plötzlich aufgetaucht war – eine mit goldenen Bögen bemalte Kulisse –, war auch er zweidimensional. Und er war mit einem Revolver bewaffnet, was ihn zu einem »Bösen« machte: Amal drückte auf den Abzug ihres Gewehrs und stanzte ihm drei dicht beieinanderliegende Löcher zwischen die Augen. Der Minuteman starrte sie noch eine geschlagene Sekunde weiter an, bevor er seinen Verletzungen erlag und nach hinten wegkippte.
    Ein Glockenschlag ertönte, und Amal ging weitere zehn Schritte die »Hauptstraße« entlang – tatsächlich eine Hallengasse zwischen Gebäudekulissen. Die Spielregeln waren einfach. Es gab vier Arten von Zielen – Minuteman, Footballfan, Frau, Kind –, jedes mit einem von vier Gegenständen – Revolver, Rohrbombe, Gänseblümchen oder Trinkbecher – in der Hand. Zweck der Übung war, nur die bewaffneten Ziele zu erschießen. Traf man drei unbewaffnete Erwachsene oder ein unbewaffnetes Kind, hatte man verloren. Verfehlte man auch nur ein Ziel mit einer Schusswaffe, hatte man verloren. Verfehlte man ein Ziel mit einer Rohrbombe, hatten alle, die sich auf der Schießanlage befanden, verloren.
    Zwei der vier Bahnen des Schießplatzes waren wegen Wartungsarbeiten gesperrt, also setzte Zinat aus, während Amal und Salim spielten. Um zu vermeiden, sich gegenseitig zu erschießen, rückten sie nebeneinander vor und meldeten das Auftauchen jeder Ziel-»Person«, bevor sie entschieden, ob sie abdrücken sollten.
    »Ziel links«, rief Amal, als in einem der Fenster eine Frau in einem Cocktailkleid erschien. Die Frau hielt ein Gänseblümchen in der Hand, aber Salim hatte gerade ein eigenesZiel gemeldet und feuerte. Amal bildete sich ein, einen Revolverlauf gesehen zu haben, und verpasste der ausladenden Oberweite der Frau einen Drei-Schuss-Feuerstoß. Ein Summer schnarrte, und auf der Punktetafel am Ende von Amals Bahn erschien ein X. Es war ein Patzer.
    »Mist«, sagte Amal.
    »Sie machen es gut«, sagte Salim zu ihr. »Ruhig bleiben, wir sind gleich durch.«
    Auf Amals Bahn kamen nur noch zwei Gebäude, ein Wohnhaus und ein Krankenhaus. Sie beobachtete die Fenster und bekam zwei Minutemen in rascher Folge, einen – »Ziel rechts!« – mit einem Revolver, den anderen – »Ziel links!« – mit einem Gänseblümchen, den sie (im letzten Augenblick) verschonte. Auf seiner Bahn erschoss Salim noch einen Redskins-Fan mit einer Rohrbombe, und dann erklang ein letzter Glockenton, und die Stimme des Hauptfeldwebels sagte: »Durchgang beendet. Bitte entladen Sie Ihre Waffen.«
    Amal zog das Magazin aus ihrem Gewehr, leerte die Kammer und rief, sobald sie fertig war: »Leer!« Salim rief ebenfalls »Leer!«, und ein langer Schnarrton signalisierte, dass auf der Schießanlage – momentan – keine Lebensgefahr bestand.
    »Fürs erste Mal haben Sie sich gut geschlagen«, sagte Salim, während sie die Hauptstraße entlang zurückgingen.
    »Ich glaube nicht, dass diese arme Unschuldige, die ich erschossen habe, das auch so sehen würde«, sagte Amal. Aber sie war mit ihrer Leistung zufrieden. Vorher, an der Schießanlage, war sie ein Nervenbündel gewesen, hatte es kaum geschafft, sich auf den Pappkameraden zu konzentrieren.
    Allmählich gewöhnte sie sich an ihn. Gott sei Dank klang er nicht auch noch wie ihr Vater. Das Timbre seiner Stimme erinnerte eher an Anwar, und so entnervend es auch war, Anwars Stimme aus dem Mund des jungen Salim zu hören,hatte sie zumindest nicht das Gefühl, sich

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