Mirage: Roman (German Edition)
arabischen und englischen – Aufschrift GRATIS-PENDELVERKEHR. Samir stieg ein, ohne zu fragen, wohin der Bus fuhr, und flegelte sich auf zwei Sitzplätze, sodass sich niemand neben ihn setzen konnte.
Die Türen schlossen sich. Gerade als der Bus anfuhr, kam jemand von hinten angerannt und hämmerte wütend um Einlass. Samir verkrampfte sich, aber als der Fahrer die Tür wieder öffnete, erwies sich der Zuspätgekommene als ein Weißer mit einem silbernen Kreuz am Jackettaufschlag.
Der Bus nahm seine Route auf, der Fahrer rief Haltestellen aus: Außenministerium, Innenministerium, verschiedene andere Behörden der neuen amerikanischen Regierung, von denen einige noch nicht mehr als ein frommer Wunsch waren. Solange der Bus in Bewegung war, starrte Samir stumpfsinnig auf die vorüberhuschende Stadtlandschaft. Wenn neue Passagiere zustiegen, senkte er die Lider und stellte sich schlafend. Als der Fahrer »Weißes Haus!« ankündigte, ließ er sich auf seinem Sitz bis unter das Niveau des Fensters hinunterrutschen und blieb dort, bis der Präsidentenpalast weit hinter ihm lag.
Er stieg an der Haltestelle Hoover Building aus. Der Busfahrer sagte nicht, welche Regierungsstelle dort ihren Sitz hatte, aber aus dem Aussehen des Hauses – ein großformatiger Schuhkarton aus Beton, der das Bild von kilometerlangen Aktenregalen heraufbeschwor – schloss Samir, dass es etwas Dröges und Ultrabürokratisches sein musste, das nationale Büro für Maße und Gewichte etwa. Er spielte mit dem Gedanken, sich dort hineinzustehlen und ein leeres Büro zu suchen, in dem er sich verkriechen könnte.
Stattdessen schlug er eine beliebige Richtung ein und marschierte los. Die Sonne stand schon höher am Himmel;der Vormittag wurde heiß und feucht. Samir blieb an einem Brunnen stehen, um etwas zu trinken. Ihm fiel eine christliche Kirche auf der anderen Straßenseite auf. Die Eingangstür stand weit offen, und ein Schild erklärte in mehreren Sprachen: JEDE SEELE WILLKOMMEN.
In der Kirche war es kühl und dämmerig. Es fand gerade kein Gottesdienst statt, und trotz der pauschalen Einladung war der Ort fast menschenleer. Als Samir sich in eine der hinteren Bänke setzte, konnte er nur noch einen anderen Menschen entdecken: eine grauhaarige Chinesin. Sie hielt den Kopf gebeugt, und im ersten Moment nahm er an, sie bete, aber dann hörte er sie schnarchen.
Er schaute zum Altar auf und sah, dass er mit einem schlichten Kreuz geschmückt war, keinem Kruzifix. Die christliche Sitte, den gemarterten Körper des Propheten Jesus darzustellen, war auf mehrerlei Ebenen zu beanstanden, und wenn Samir diese Praxis persönlich auch nicht als Sakrileg ansah – abartig fand er sie durchaus. Mochte das leere Kreuz seit einigen Jahren auch noch sosehr mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden, wirkte es doch entschieden zivilisierter.
Als jemand in die Bank hinter ihm glitt, sträubten sich Samirs Nackenhaare. Er ermahnte sich selbst zur Ruhe. Dann aber schloss sich eine Hand um die Rückenlehne seiner Bank, und eine Stimme sagte auf Arabisch: »Bist du nicht einer von Luts Freunden?«, was die Parole war, die Idris ihm mitgeteilt hatte.
Samir stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus. Er drehte sich um. Hinter ihm saß der weiße Christ aus dem Bus. Das Silberkreuz an seinem Revers – in diesem Kontext eindeutig ein Symbol des Terrors – blinkte schwach im Kirchendämmer.
»Sie?«, sagte Samir. »Sie sind von al-Q…«
»Schnauze!«, sagte der al-Qaida-Mann. »Folgen Sie mir nach draußen.«
An die Kirche grenzte ein Miniaturpark. Etwas an der Anlage – wie die Parkbänke standen, vielleicht – erinnerte Samir an einen Park in al-Kazimiya, wo vor nicht langer Zeit zwei Männer bei einem Rendezvous erwischt und vom aufgebrachten Pöbel zusammengeschlagen worden waren.
Der al-Qaida-Agent führte ihn hinter eine Hecke am Ende des Parks und griff ihn dann mit geballten Fäusten an. »Nehmen Sie das!«
Samir hob die Arme, um den Hieb abzuwehren. »Warten Sie! Warten Sie!«
»Ich sagte, nehmen Sie das!« Der al-Qaida-Mann knallte ihm ein Mobiltelefon in die erhobenen Hände. Samir ergriff es ungeschickt und ließ es beinahe fallen, dann hielt er es mit ausgestrecktem Arm vor sich, als wäre es ansteckend.
»Was … Was soll ich damit?«
»Das ist für morgen. Wenn Sie mit den Marineinfanteristen auf Patrouille gehen, werden Sie das dabeihaben.«
Samir schüttelte schon den Kopf, bevor ihm überhaupt eine Begründung eingefallen war:
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