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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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links von der Mautstraße zu einem bewaldeten Hügelkamm auf. Rechts zog sich eine ebene Waldung hin, hinter der eine Gruppe von Häusern undeutlich zu erkennen war. Die Straße selbst – vier Spuren, halbiert durch einen breiten Grünstreifen – verlief ungefähr einen Kilometer weit gerade und eben, um dann eine scharfe Rechtskurve zu machen.
    »Sehen Sie irgendetwas?«, fragte Mustafa.
    »Nein«, sagte Leutnant Fahd. »Ich habe nur so ein komisches Gefühl …«
    Während der Leutnant noch einmal den Wald absuchte, starrte Samir auf die Plakatwand, die an der Südwestecke der Kreuzung am Fuß des Kamms stand. Das Plakat, das einen barbrüstigen Oded Fehr zeigte, der eine Uzi liebkoste, während Natalie Hershlag unter seidenen Laken einen Schmollmund machte, warb für einen israelischen Ballerfilm, den Samir, wie er wusste, sogar zweimal gesehen hatte, dessen arabischer Titel ihm aber momentan partout nicht einfallen wollte. Vandalen hatten Fehr eine Jarmulke und Hörner verpasst und Hershlag ein Hakenkreuz auf die Stirn gemalt. Diese Zutaten waren, wie das Plakat selbst, verwittert und verblasst, aber das aufgesprühte weiße Kreuz in der unteren rechten Ecke der Plakatwand war frisch und unübersehbar.
    »Also gut«, sagte der Leutnant, dem noch immer nicht wohl in seiner Haut war und der inzwischen seine Entscheidung bedauerte, den Hubschrauber ziehen gelassen zu haben. »Weitermarsch.«
    Während die Kolonne sich wieder in Bewegung setzte, schob Samir die Hand – wegen der Splitterschutzweste und auch wegen des Taubheitsgefühls, das seinen ganzen Körper erfasst hatte, etwas mühsam – in die Hosentasche. Als er die Finger um das Mobiltelefon schloss, drückte er versehentlich den ersten Knopf. Dann lähmte ihn panische Angst.
    Das vorderste MZF rollte an der markierten Plakatwand vorbei. Dann das zweite. Das dritte. Samir schloss die Augen.
    Er zwang sich, sie wieder zu öffnen. Er drehte seinen linken Handteller nach oben, sah hinunter auf die Gesichter seiner Söhne. Malik, dachte er. Jibril. Gott steh mir bei.
    Er drückte auf SENDEN.
    Eine letzte Textnachricht hatte Bar Abbas darüber informiert, dass die Kolonne an der Kreuzung angelangt war. Er nahm die Fernbedienung in die Hand und drückte auf den Testknopf. Das grüne Lämpchen blinkte beruhigend. Dann, als er den Sicherungsbügel über dem Zündknopf umlegte und hinüber zur Todeszone sah, leuchtete das rote Lämpchen auf.
    »Gut für dich, Samir«, sagte Bar Abbas. »Da haben Idris und ich dir wohl unrecht getan.«
    Er duckte sich, um vor der kommenden Druckwelle in Deckung zu gehen, und der Klang von Musik erfüllte den Unterstand. Bar Abbas ging die Grüne Wüste seit Tagen nicht aus dem Kopf, und so dauerte es einen Moment, bis er begriff, dass das Lied von außen kam. Er sah hinunter auf die Planken, mit denen der Boden des Unterstands ausgelegt war. Er hatte angenommen, unter ihnen sei nichts als Erde, aber offenbar hatte jemand einen CD-Spieler versteckt und Titel 17 von ›Sohn von Kusch‹ vorprogrammiert, »Und tschüss (viel Spaß mit den Jungfrauen)«, eine eingängige sarkastische Ballade über einen Selbstmordattentäter.
    Die Ballade hatte, vom Geräusch der anrückenden MZF kontrapunktiert, fast das Ende der ersten Strophe erreicht, als Bar Abbas aufging, dass es keine CD war, was er da hörte.
    Es war ein Klingelton.
    Am Morgen des 9.11. waren Mustafa und Samir, wie jeder Polizist, Feuerwehrmann und Rettungssanitäter in Bagdad, zum NullPunkt gehastet. Aber da sie Halal-Beamte und keine echten Erstversorger waren, hatte nie die Aussicht bestanden, dass man sie in die Türme schicken würde – wofür Samir, zu seiner eigenen Beschämung, insgeheim immer dankbar gewesen war. Manchmal fragte er sich, ob er, hätte er einen solchen Befehl erhalten, imstande gewesen wäre, ihn zu befolgen.
    Die andere Sache, die ihm einfiel, wenn er an diesen Tagzurückdachte, waren die Springer: die in den oberen Etagen eingeschlossenen Opfer, die in den Tod gestürzt waren. Die meisten waren, als sie aus eingeschlagenen Fenstern kletterten, um der Hitze und dem Rauch zu entkommen, gefallen. Aber einige von ihnen waren wirklich gesprungen. Samir hatte insbesondere einen alten Mann in Erinnerung, der, hoch oben im Restaurant »Fenster zur Welt«, die Hände zum Gebet gefaltet hatte, während er sich Gott und der Schwerkraft ergab. Auch da fragte sich Samir, was er selbst in so einer Situation getan hätte und was für ein Gefühl es gewesen wäre,

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