Mirage: Roman (German Edition)
Zielgenauigkeit ihre Grenzen.«
Die Straße zog sich, erst nord-, dann westwärts, um den Stadtkern herum. Die MZF-Bordschützen hielten ihre Maschinengewehre auf die lückenhafte Stadtsilhouette gerichtet und schauten nach Heckenschützen aus. Zinat, die kein Auge von Salims Backen wandte, stupste Amal an, als seine Hüften zusammen mit dem Geschützturm einen Rundschwenk vollführten. Amal achtete nicht auf sie. Wie die MG-Schützen konzentrierte sie sich ganz auf die hohen Gebäude, und was sie bestürzt machte, war nicht das Ausmaß der Zerstörung, sondern die Unzahl von brauchbaren Aussichtspunkten für Heckenschützen, die inmitten der Trümmer noch blieben. Die zivilen Opferzahlen minimieren war ja schön und gut, aber wenn man eine Stadt sowieso zerbombte, warum dann nicht gleich Nägel mit Köpfen machen?
Auf den ersten Kilometern griff sie niemand an. Dann fuhren sie an einer Trabantenstadt vorbei, die im Rahmen eines Gefechts zwischen den Virginia Sons of Liberty und dem 7. Marineinfanterieregiment dem Erdboden gleichgemacht worden war. Eine Bande von kleinen Jungs spielte auf dem schuttübersäten Areal Patrioten und Muslime: Sie flitzten von Deckung zu Deckung und erschossen einander mit »Gewehr«-Stöcken.
Leutnant Fahd drückte die Sprechtaste seines Funkgeräts. »Nicht schießen, nicht schießen«, sagte er. »Das sind Nichtkombattanten.«
Die Bordschützen hielten sich zurück. Die Kinder, die nun einmal Kinder waren, zeigten weniger Selbstbeherrschung. Als Salim vor einem Minipatrioten mit aus Zeitungspapier gefaltetem Dreispitz scherzhaft salutierte, warf der Junge mit einem Stein nach ihm. Der Kleine hatte einen guten Wurfarm; der Stein prallte vom Rand des Geschützturms ab und erwischte fast Salims Gesicht. »Du kleiner Scheißer!«, sagte Salim – eine Beurteilung, der sich Amal unten im Wagen nur anschließen konnte. Doch Salim lachte, und er hielt den MG-Lauf selbst dann noch ungefährlich nach oben gerichtet, als die anderen Kinder ebenfalls anfingen, mit Steinen zu schmeißen.
»Was skandieren sie da?«, fragte Mustafa.
»›Sandnigger‹«, sagte Leutnant Fahd. Er fügte trockenhinzu: »Das ist ein Kosename. Sie vergleichen uns mit den edlen Sklaven, die einst dieses Land aufbauten.«
Mustafa verstand den sarkastischen Scherz, doch er lachte nicht. Er wollte kein Spaßverderber sein, und er glaubte wirklich, dass das Militär hier das Beste geleistet hatte, was es mit den vorhandenen Mitteln erreichen konnte. Dennoch, während die Kolonne ihre Fahrt fortsetzte, drängte sich der Gedanke unentrinnbar auf: Welche Verdienste auch immer am Tag des Gerichts der Koalition gutgeschrieben werden würden – Staaten bildung würde nicht dazu gehören.
Die aufsteigende Sonne hatte den Nebel aufgelöst, und im Unterstand war es jetzt so hell, dass Bar Abbas lesen konnte, ohne die Augen zusammenkneifen zu müssen. Er hatte gerade seine Lektüre unterbrochen, um sich eine neue Zigarette anzustecken und den letzten Rest Kaffee auszutrinken, als sein Mobiltelefon noch einmal vibrierte.
Er hatte zwei ungelesene Textnachrichten. Die eine war vom Hinterhalttrupp in Reserve, der bestätigte, dass er Posten bezogen hatte und bereit war, etwaigen Marineinfanteristen, denen es gelingen sollte, der Todeszone zu entkommen, den Rest zu geben.
Die andere Nachricht kam von einem Beobachter an der Strecke: SARAZENEN AUF PIKE @ FALLS CHURCH. ABLENKUNGSMANÖVER LÄUFT.
»Ausgezeichnet«, sagte Bar Abbas und sandte jetzt selbst eine Textnachricht ab: SARAZENEN KOMMEN. ALLES BEREIT MACHEN.
Samir versuchte, sich selbst zu hypnotisieren.
Er hatte alles abgerufen, was er je darüber gehört hatte, wie Selbstmordattentäter sich vorbereiteten – die rituellen Gebete und Glaubensbekenntnisse, die Visionen vom himmlischen Lohn, der sie jenseits der Himmelspforte erwartete –, aber nichts davon nützte ihm im Geringsten. Erkannte den Wortlaut des Nizänums nicht und glaubte nicht an den heiligen Petrus. Vielleicht, wenn er einen Klumpen Haschisch zu essen gehabt hätte, wie Hassan-i Sabbahs Assassinen – oder noch besser, ein schönes großes Glas Hochprozentigen …
Er konzentrierte sich auf das Dröhnen des Motors des MZF und hoffte, dass es ihn, in Verbindung mit seiner Erschöpfung, in einen Geisteszustand versetzen würde, in dem er auf zwei Knöpfe drücken könnte, ohne nachzudenken. Es funktionierte nur zu gut: Sein Kopf neigte sich, bis sein Kinn seine Brust berührte, und dann ließ ihn der
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