Mirage: Roman (German Edition)
Motorenlärm eines aus der Gegenrichtung vorüberdonnernden, nicht schallgedämpften Motorrads ruckartig wieder hochschrecken und sagen: »Wo sind wir? Wo sind wir? Hab ich’s verpasst?«
»Nur die Ruhe«, sagte Gefreiter Dimashqi, mit den anderen Marineinfanteristen schmunzelnd. »Wir sind noch nicht da.«
»Wie lang hab ich geschlafen?«
»Eine, höchstens zwei Minuten. Sie haben nichts verpasst, Ehrenwort.«
Sie durchquerten gerade ein weiteres ausgebranntes Wohngebiet. Samir presste das Gesicht gegen sein Seitenfenster und versuchte, zurückzuschauen und zu erkennen, ob auf dem Bankett hinter ihnen irgendwelche Plakatwände standen, aber ohne Erfolg. Beunruhigt ließ er die Hand auf seinen Oberschenkel fallen und spürte das Mobiltelefon in seiner Hosentasche. Gerade als er es berührte, erdröhnte in der Ferne eine Explosion.
»Was war das?« Samir schaute wieder aus dem Fenster und sah im Norden schwarzen Rauch aufsteigen. »Was zum Henker war das?«
Im Führungsfahrzeug stellte Leutnant Fahd gerade – mit gesitteteren Worten – die gleiche Frage. »Sieht wie eine Lastwagenbombe aus«, funkte der Hubschrauberpilot herunter. »Irgendwo in McLean … ja, CB-Funk meldet Angriff von Aufständischen auf die Hauptfeuerwache.«
Der Leutnant zischte angewidert. »Sehen Sie?«, sagte er, während er Mustafa einen Blick über die Schulter zuwarf. »So sind diese Scheißkanaken. Sie legen ihre Ersthelfer um, und dann geben sie uns die Schuld, wenn ihre Wohnviertel abbrennen!«
Im Funkgerät knackte es. Es war wieder der Helikopter: »Aufständische greifen jetzt das Polizeipräsidium von McLean an. Die Angreifer haben einen Mörser, und die Beamten bitten uns um Hilfe bei dessen Ausschaltung.«
»Ja, ja, zieht schon ab«, sagte Leutnant Fahd. »Wir melden uns, wenn wir euch brauchen.«
Samir sah dem abschwenkenden Hubschrauber nach und begriff. Er hatte nichts verpasst. Das Zeichen, nach dem er Ausschau halten sollte, lag noch vor ihnen, aber jetzt, wo ihr Geleitschutz weggelockt worden war, würde er nicht mehr lange warten müssen. Er gab seine Selbsthypnoseversuche auf und griff auf die Vaterliebe zurück, indem er den Schnappschuss aus seiner anderen Tasche zog und ihn in den hohlen Händen hielt. Malik, dachte er, Jibril, es tut mir leid, dass ich nicht der Vater sein konnte, den ihr verdientet. Aber jetzt mache ich diese eine Sache, für euch, und bete darum, dass Idris sich an seinen Teil der Abmachung hält.
»Sind das Ihre Söhne?«, fragte Gefreiter Dimashqi.
Samir biss die Zähne zusammen. »Ja«, sagte er.
»Hübsche Jungs.« Der Gefreite zückte seinerseits einen Schnappschuss. »Das sind meine Töchter. Das sind Faiza und Basilah, und das Baby ist Aisha.«
»Entzückend.« Halt die Klappe. Bitte halt die Klappe.
»Ja … Aisha kenne ich eigentlich noch gar nicht. Aber mein Einsatz endet in einem Monat, dann werde ich sie endlich in den Armen halten können …«
Also schön, Gott, dachte Samir. Ich hab’s kapiert. Ichbin ein Sünder und ich komme in die Hölle. Schön, dann fahr auch du zur Hölle. Das Bild von Malik und Jibril an die Brust gedrückt, starrte er grimmig schweigend auf den Straßenrand, während Gefreiter Dimashqi endlos weiter über seine Töchter plapperte.
Dies schien die letzte verwüstete Zone zu sein. Sie unterquerten eine verfallene Brücke, passierten ein Schild mit dem Hinweis SIE VERLASSEN TYSONS CORNER und gelangten in eine weitgehend intakte grüne Vorstadt. Zwar deutete noch vieles darauf hin, dass hier Kampfhandlungen stattgefunden hatten – eine Kirche am Straßenrand, die ihren Turm eingebüßt hatte; zwei amerikanische Panzer, die ohne Geschützturm auf einem von Brombeeren überwucherten Feld herumstanden –, aber keine verbrannte Erde mehr.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Leutnant Fahd nach einem Blick auf die elektronische Landkarte am Armaturenbrett. »Noch fünf Kilometer.«
Als er einen Augenblick später Sirenen näher kommen hörte, trat er, hundert Meter vor einer Kreuzung, auf die Bremse. Eine Kolonne von Einsatzwagen – zwei Löschfahrzeuge, ein Rettungswagen, ein weiteres Löschfahrzeug – kam die Querstraße entlanggerast, mit Kurs auf McLean oder einen anderen Krisenherd. Der Schütze des vordersten MZF nahm jedes Fahrzeug nacheinander ins Visier. Auch nachdem das letzte vorbei war, rührte sich die Kolonne nicht von der Stelle, während der Leutnant das Terrain mit einem Fernglas absuchte.
Jenseits der Kreuzung stieg das Gelände
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