Mirage: Roman (German Edition)
tief, dass der Grund im Schatten verborgen lag. Mustafa fragte sich, was den Krater wohl davor bewahrte, mit Sand vollzulaufen, und wie als Antwort darauf entstand am gegenüberliegenden Rand ein Staubteufel, der auf seinem Weg lockeren Grieß aufsaugte. In der Wachwelt ging die Frachtmaschine in die Querlage, um den Kurs zu ändern, und Mustafas Kopf löste sich vom Fenster und fiel auf die andere Seite; im Traum umrundete der Staubteufel den Krater und nahm dabei an Größe und Dichte zu, bis er die Sonne verfinsterte.
Dann setzte sich Mustafa auch wieder in Bewegung, ging durch einen Dunst von wehendem Sand. Rings um ihn herum war Formlosigkeit und Leere, schon bald aber begann der Sand sich zu den Stämmen und Kronen von Eukalyptusbäumen zu verdichten. Er kam an einem Schild vorbei: REALITÄTSUMBAU-VERSUCHSGELÄNDE Nr. 99.
Auf einer offenen Fläche jenseits der Bäume erhob sich ein hybrides Heiligtum – ein Amalgam aus dem Nasser-Denkmal in Kairo und einem der Monumente, die Mustafa in der Grünen Zone besichtigt hatte. Niedrige Stufen stiegen zu einer Plattform auf, auf der eine flackernde »Flamme der Einheit« brannte. Dahinter trug ein Halbkreis kannelierter Säulen eine gewölbte Platte, in die die Worte eingemeißelt standen: DENKE ICH DARAN, DASS GOTT GERECHT IST, BANGE ICH UM MEIN LAND.
Ein weiterer Staubteufel entstand, erfasste die Einheitsflamme und zog sie zu einem gedrehten Pfeiler aus blauem, rauchlosem Feuer in die Höhe. Dann verflüchtigte sich das Feuer, und an seiner Stelle stand eine Gestalt in einem weißen Kittel, die Mustafa aus einem anderen Traum wiedererkannte.
»Hallo noch mal«, begrüßte ihn der Dschinn. »Hast du deine Zeitzonen inzwischen auf die Reihe gekriegt?«
Mustafa hielt das Foto von der Grabungsstätte in die Höhe. »Hilla«, sagte er. »Ich habe deine Flasche gefunden.«
»Nicht meine«, sagte der Dschinn. »Sie gehörte einem Prinzen von Babylon. Und ich ebenso, eine Zeitlang.«
Mustafa hörte ein Sirren von verwehtem Sand und drehte sich danach um, und der Eukalyptuswald hatte sich in eine mächtige Metropole verwandelt, deren Silhouette von Zwillingstürmen beherrscht wurde. New York, dachte Mustafa, doch schon hatte eine zweite Transformation eingesetzt, Veränderungen schlierten durch das Stadtbild, verwandelten es in Bagdad. Und noch während er es geschehen sah – sobald die Verwandlung vollendet war und die Tigris-und-Euphrat-Türme so vertraut dastanden, fiel es schwer, sich vorzustellen, dass die Szene je anders gewesen war.
»Habe ich das getan?«, sagte Mustafa. »War das mein Wunsch?«
Der Dschinn schien die Frage in seinem Herzen zu bewegen. »Die ganze Welt umzuerschaffen wäre ein Akt außerordentlichen Hochmuts. Klingt das nach dir?«
Mustafa sah auf das Foto in seiner Hand. »Nein«, sagte er, von seiner eigenen Antwort überrascht. »Nein, es klingt eher nach etwas, was ein Amerikaner tun würde …«
»Dann muss ich ebenfalls einen Hauch Amerika in mir haben«, sagte der Dschinn lächelnd. »Einen solchen Wunsch zu erfüllen … Ach, aber ich liebe Herausforderungen! Und ich war äußerst dankbar dafür, aus meiner Gefangenschaft erlöst worden zu sein.«
»Was habe ich mir dann gewünscht? Wenn nicht das …«
»Kleinere Dinge«, sagte der Dschinn. »Schwierigere Dinge. Dinge, die ich dir nicht gewähren konnte. So dankbar ich auch war.« Er deutete mit einer Geste auf die Stadtlandschaft, und Mustafa sah, durch Fenster, die sich an den Seiten der Türme öffneten, zwei Ansichten von Fadwa. Sie fuhr in einer überfüllten Untergrundbahn; sie war außerdem, in einer parallelen Wirklichkeit, allein zu Hause und betete um die Rückkehr ihres Mannes, der nach ihrem letzten Streit gegangen war. Dann flogen die Flugzeuge in den Himmel Bagdads ein, und Fadwa schaute auf und schaute auf und war nicht mehr.
»Ich konnte sie dir nicht zurückbringen«, erklärte der Dschinn Mustafa, dessen Wangen jetzt tränennass waren. »Ich habe es versucht, aber Gott hat es nicht zugelassen. Nicht sie. Vielleicht ist es besser so …«
»Und ihr Elend?«, sagte Mustafa. »Wenn du schon nicht Fadwas Leben verschonen konntest, hättest du nicht wenigstens daran etwas ändern können?«
Der Dschinn gab keine Antwort.
»Und Nur?«
»Ah, Nur«, sagte der Dschinn und machte ein betretenesGesicht. »Ein fehlgeleiteter Versuch zu trösten. Ich dachte, sie würde wenigstens dich glücklicher machen. Aber offenbar habe ich mich verrechnet.«
»Das würde ich
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