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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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auch sagen«, pflichtete Mustafa ihm bei. »Du hättest mir keine zweite Frau geben dürfen. Du hättest Fadwa einen besseren Ehemann geben sollen.«
    »Das wäre nicht ihr Wunsch gewesen«, sagte der Dschinn, »und ich hätte ihn sowieso nicht erfüllen können. Schau dir die Stadt noch einmal an.«
    Mustafa schaute. Die Silhouette schien ihm entgegenzustürzen, und die Türme und Wolkenkratzer, die von Weitem so fest gewirkt hatten, entpuppten sich als Anordnungen von winzigen voneinander geschiedenen Teilchen, die durch den leeren Raum wirbelten.
    »Sand«, sagte der Dschinn. »So viel von dieser Welt: Sand, und so Gott will, so leicht umgeordnet. Aber nicht alles.« Die Stadt trat wieder zurück. Mustafa kam sich vor, als spreche er eine Textzeile in einem Stück: »Menschenwesen aus Lehm.«
    »Manche Teile weicher als andere«, sagte der Dschinn. Er hatte eine Hand an den Schädel geführt, neben den Sitz des Gedächtnisses. »Nachgiebig und formbar, wenn richtig begriffen. Doch die Charaktere der Männer und Frauen – ihre Stärken und Schwächen, ihre Leidenschaften und Ängste, die Sünden und Laster, denen sie frönen –, die sind aus Eisen und Stahl und Messing. Die kann ich nicht verändern. Oh, vielleicht eine Kleinigkeit hier und da … Aber in deinem Kern bist du der, der du bist. Ich kann dich nicht zu jemand anders machen.«
    »Na«, sagte Mustafa, und frische Tränen flossen. »Na, das ist ja dann wunderbar.«
    »Du solltest nicht weinen«, sagte der Dschinn. »Ich kann dich nicht zu einem besseren Menschen machen, aber Gott, der dir Leben und freien Willen verlieh, kann dir helfen beim Versuch, einer zu werden. Versuche es aufrichtig,und wenn du strauchelst, bitte Ihn um Vergebung und versuche es noch einmal.«
    »Wenn es nur so einfach wäre!«, sagte Mustafa.
    »Es ist nicht einfach. Es ist ein Ringen. Aber Kampf ist besser als Selbstmitleid. Du erweist Fadwa keine Ehre dadurch, dass du weiter bei dem verweilst, was sich nicht ungeschehen machen lässt. Du lenkst dich lediglich von dem Guten ab, das du noch tun kannst – und dem Bösen, das du noch immer verhindern könntest. Du bist ein Sünder, Mustafa al-Bagdadi, aber du bist nicht der einzige Sünder. Und mit Sicherheit nicht der schlimmste.«
    Etwas an seinen Worten veranlasste Mustafa, wieder nach der Stadt zu schauen. Ihre Silhouette war größtenteils verblasst und hatte nur noch die Zwillingstürme zurückgelassen – zwei Paar davon, Seite an Seite. Hinter ihnen ragte der Schatten eines Mannes in die Höhe, wie ein Teufel, der sie einfordern kam. Es war nur ein Umriss, aber Mustafa glaubte zu wissen, zu wem er gehörte. Wie viele andere Männer waren schon so hochgewachsen?
    »Eisen und Stahl und Messing«, sagte der Dschinn. »Ein böser Fürst in einer Welt ist ein böser Fürst in jeder Welt.«
    Am späten Nachmittag landeten sie auf dem Luftwaffenstützpunkt al-Kharj. Die Außentemperatur betrug 49 Grad Celsius, und ein dichter Hitzeschleier ließ Hangars und Kontrollturm flimmern, wie proteische Objekte, die ihre endgültige Form noch nicht gefunden hatten. Als er auf die Asphaltpiste trat, fragte sich Mustafa, ob er vielleicht noch immer träumte.
    Amal half Salim in einen Rollstuhl. Mustafa beobachtete die beiden, und plötzlich wurde ihm, zum ersten Mal, schlagartig bewusst, wie ähnlich sie sich waren. Und nicht nur die beiden: Als er auf Salims Profil starrte, blitzte in ihm die Erinnerung an einen Zeitschriftenartikel auf, den Abu Mustafa ihm unlängst gezeigt hatte. Der eigentliche Artikelhatte von der Laufbahn Senatorin al-Maysanis gehandelt, aber in einer Seitenspalte war auch auf Amals Vater eingegangen worden, Shamal, den Polizisten und Kämpfer gegen die Korruption … Ja, dachte Mustafa, offenbar träume ich noch immer.
    Ein greller Lichtblitz lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Hitzeschleier. Er beschirmte mit einer Hand die Augen, und die Erscheinung verdichtete sich zu einem Krankenwagen, dessen Windschutzscheibe und vorderer Stoßfänger das harte Sonnenlicht reflektierten. Ein Mann in Zivil lehnte sich aus dem Beifahrerfenster, und noch bevor der Krankenwagen zum völligen Stillstand gekommen war, sprang er heraus auf den Asphalt, rannte zum Rollstuhl, schlang die Arme um den jungen Soldaten und begann, ihn mit Küssen zu bedecken.
    »Vater«, sagte ein feuerroter Salim etliche Momente später, »das ist meine neue Freundin Amal. Sie hat mir das Leben gerettet.«
    »Danke«, sagte Anwar, die Augen

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