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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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»Ich möchte ein paar Worte über den Frieden sagen.«
    Haidar war jetzt auf Badr-Territorium, auf der Suche nach dem Ursprung eines seltsamen Geräusches – eines metallischen Knalls, vielleicht einer zufallenden Tür –, das er einen Moment zuvor gehört hatte. Das Murmeln, das bei den ersten Worten des Patriarchen durch die Menge ging, veranlasste ihn, zur Bühne zu schauen. Gerade als er sich wieder abwandte, nahm er aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung wahr: eine Gestalt, die aus der Seite des Postamts herauskam. Bis Haidar sich ganz nach ihr umgedreht hatte, war die Gestalt hinter einem Nebelschwall verschwunden und hatte ein Gesprenkel von Eindrücken hinterlassen: weißes Hemd. Dunkle Weste. Blasse Haut. Strohfarbenes Haar.
    »›Das Christentum ist eine Religion des Friedens‹«, sagte der Patriarch. »Wir alle haben in den letzten Jahren diesen Gedanken, von wohlmeinenden Apologeten geäußert, zahllose Male gehört. Ich bin sicher, dass er in den Ohren vieler Muslime wie eine absurde, ja eine beleidigende Behauptung klingen muss. Und nirgendwo mehr als hier, in Bagdad, am NullPunkt des Krieges gegen den Terror.« Er hob einen Arm, deutete mit einer Handbewegung auf die leere Stelle, an der die Türme hätten stehen müssen. »Christen, friedlich. Wie lächerlich!«
    Haidar hatte gefunden, wonach er suchte. In einer Einbuchtung der Wand des Postamts befand sich ein in den Boden eingelassenes hochklappbares Metallgitter. Es hätte eigentlich abgeschlossen sein müssen, aber ein Vorhängeschloss war nicht zu sehen, und die Vorderkante des Gitters ragte, nicht richtig eingerastet, über den Rand seiner Einfassung hinaus. »Code Gelb, Code Gelb«, sagte Haidar in sein Funkgerät. »Wir haben ein Sicherheitsproblem an der Ostgrenze.«
    »Wie lächerlich«, wiederholte der Patriarch. »Und wissen Sie, es ist lächerlich, wenn wir unter ›Religion‹ die Anhänger dieses bestimmten Glaubens verstehen. Religionsgemeinschaften setzen sich nicht aus Abstraktionen wie ›Frieden‹ zusammen. Sie setzen sich aus Menschen zusammen. Gehen Sie in eine beliebige Kirche im Lande, in eine beliebige Synagoge, ja eine beliebige Moschee, und das ist es, was Sie finden werden: Menschen. Ein paar Heilige vielleicht«, der Patriarch zuckte mit einer Schulter, »und vielleicht auch ein, zwei Dämonen, die ihre Bosheit hinter einer Maske von Frömmigkeit verbergen. Aber die große Mehrheit, das Gros der Gläubigen sind weder Engel noch Teufel, sondern gewöhnliche Sünder: Männer und Frauen, die versuchen, sich mit Gottes Hilfe und Vergebung durchs Leben zu schlagen …«
    »Suleiman, stell die Wasserspiele ab«, sagte Haidar, und nach kurzem Zögern gingen die Nebler aus. Während sich die Regenbogen auflösten, pflügte sich Haidar durch die Menge, nach einem Weißen in dunkler Weste Ausschau haltend. Er blieb stehen, um einen 360-Grad-Schwenk zu vollführen, und machte etwas anderes aus, etwas Außergewöhnliches: einen anderen Mann, einen Araber in einem weißen Wüstengewand, der in der Luft zu schweben schien. Die schwarz-weiße Kefiye um seinen Hals flatterte wie verrückt in einer Brise, die Haidar nicht spüren konnte, und seine Augen waren mit blauem Feuer erfüllt.
    Dann blinzelte Haidar und sah jetzt klarer. Der Mann levitierte nicht; er stand in einem Beton-Pflanzkübel, seine in Sandalen steckenden Füße von Büscheln leuchtender Ringelblumen umgeben. Seine Augen, die das Licht der Nachmittagssonne reflektierten, waren auf einen Punkt in der Menge gerichtet. Haidar folgte der Richtung des starren Blickes und sah Joe Simeon, der sich auf das Podium zubewegte.
    »Wenn wir von einer Religion des Friedens sprechen,meinen wir nicht das Christentum, wie es ist, sondern wie wir es gern hätten, das Christentum, das wir Tag für Tag zu verwirklichen wünschen und erstreben – ein Streben, ein Kampf, der sich in nichts von dem täglichen Kampf der Muslime unterscheidet. Und wenn wir in diesem Ringen häufig scheitern, so liegt es nicht daran, dass wir einen anderen, geringeren Gott verehren würden; es liegt daran, dass wir, wie Sie, nur Menschen sind.«
    Haidar sprach eindringlich in sein Funkgerät. Er schaute wieder zu dem Mann im weißen Gewand und sah, dass er nicht mehr starrte; er hatte die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt, und seine Lippen bewegten sich wie im Gebet. Von einem plötzlichen Kältegefühl erfüllt, wandte sich Haidar wieder zu Joe Simeon, der fast den Rand des Promi-Bereichs erreicht

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