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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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Qibla ausgerichtet. Sein gegenwärtiger Fokus war allerdings weder Mekka noch der gestirnte Himmel, sondern das Herz der riesigen Wüste im südöstlichen Quadranten der arabischen Halbinsel. Sand aus dieser Wüste war in einer Reihe gebogener Linien auf den Fußboden des Zimmers gestreut worden, wodurch ein Muster entstanden war,das wie ein von oben betrachteter Wirbelwind aussah. Im Auge des Wirbelwinds befand sich, auf einem Sandhaufen, die Messingflasche aus Hilla, den unverschlossenen Hals gegen das Fenster geneigt. Rings um den Außenrand des Wirbels waren in regelmäßigen Abständen Räuchergefäße sowie Glocken- und Schellenmasten platziert, und weitere Utensilien und Talismane waren nach irgendeinem System, in das man Udai nicht eingeweiht hatte, zwischen den gebogenen Ästen des Wirbels angeordnet worden.
    Der Anblick machte ihn schwindlig, und sich schwindlig zu fühlen machte ihn wütend. Er näherte sich dem Rand des Wirbelwinds und stupste mit der Spitze seines Schuhs gegen eine der qualmenden Kohlenpfannen.
    »Bringen Sie das Muster nicht durcheinander!«
    Herr Rammal, der Zauberer seines Vaters, stand in der Tür, eiserne Ketten in der Hand. Udai ballte angesichts der Zurechtweisung die Fäuste und erwog eine gefährliche Sekunde lang, durch das ganze Muster zu trampeln, wie ein Junge, der eine Sandburg zertritt – und dann vielleicht als Draufgabe Herrn Rammal so lange mit der Pistole über die Schnauze zu hauen, bis ihm das Gehirn zu den Ohren herauskam.
    Er widerstand dem Drang. Sein Vater war zu Hause und nicht weit weg, und Zimmermädchen waren nicht die Einzigen in diesem Haus, die grausamen Strafen unterworfen wurden.
    Stattdessen funkelte er also Herrn Rammal an. »Was bildest du dir ein, mit wem du in diesem Ton redest?«
    »Sie dürfen das nicht durcheinanderbringen«, wiederholte Herr Rammal. Er trat näher, um sich zu vergewissern, dass noch kein Schaden entstanden war, und Udai unterdrückte einen neuerlichen Impuls zur Gewaltanwendung.
    »Wozu soll das überhaupt gut sein?«, sagte Udai. »Den Dschinny in die Flasche saugen, wie ein magischer Staubsauger?«
    »Sie sollten sich auf die Kreatur nicht so explizit beziehen«, warnte Herr Rammal. Diesmal mäßigte er seinen Ton. Auch wenn er wusste, dass er unter Saddams Schutz stand, war ihm auch klar, dass Udais Selbstbeherrschung ihre Grenzen hatte – und so aus nächster Nähe war die Wut des jüngeren Hussein schier mit Händen zu greifen. »Aber um Ihre Frage zu beantworten, nein, das hier ist lediglich ein Köder. Wozu er gut sein wird, wenn er funktioniert, ist, die Kreatur in diese Stadt zu ziehen und sie zu zwingen, sich zu offenbaren. Dann müssen wir sie, solange sie sichtbar ist, finden und festbinden.« Er hielt die Ketten in die Höhe. »Um sie wieder in die Flasche zu bannen, wird es eines abschließenden Rituals bedürfen.«
    »Glaubst du wirklich an die Scheiße, die du da von dir gibst?«
    »Ihr Vater glaubt daran.«
    »Ich werde dir verraten, woran mein Vater glaubt«, sagte Udai. »Mein Vater glaubt daran, an Leuten, die ihn zu betrügen versuchen, Exempel zu statuieren. Wenn er begreift, dass du ein Scharlatan bist – und das wird er –, wird er den Wunsch verspüren, dir wehzutun. Und rate mal, wen er sich zu Hilfe holen wird, um dir wehzutun?« Er beugte den Kopf dicht zu dem des Zauberers und atmete ihm einen Hauch säuerliche Luft an die Wange. »Na los, rate mal.«
    Ein Luftschwall kam durchs Fenster herein und brachte mehrere Glockenspiele zum Klimpern. Udai richtete sich, über Herrn Rammals Reaktion lachend, ruckartig wieder auf. »Lobet Gott den Allbarmherzigen!«, sagte Udai. »Der Wind lässt das Windspiel läuten! Ein Wunder ist geschehen!«
    Dann legte sich die Brise, nicht aber das Geklingel. Es breitete sich im Kreis aus, als packte eine unsichtbare Hand jeden einzelnen Ständer und schüttelte dessen Glöckchen. Die sauberen Rauchfäden, die von den Kohlenschalen senkrecht aufstiegen, wanden sich und zerfaserten. EinRäuchergefäß vor dem Fenster schoss eine blaue Flammensäule in die Höhe, als wäre ein Gasstrahl durch den Boden der Schale gejagt worden; die Flamme stieg bis zu einem Meter Höhe auf, bevor sie flackernd ausging. Es entstand eine Pause, lang genug für einen Herzschlag oder ein Flüstern, und dann spie ein anderes Kohlenbecken Feuer, und noch eins, und noch eins – aber immer nur eins auf einmal, als wäre es in Wirklichkeit eine einzige Flamme, die munter den Umfang des Kreises

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