Mirage: Roman (German Edition)
bewaffneten Räuber Mitglieder einer Straßenbande, die sich die Islamische Widerstandsbewegung nannte.« Mustafa legte eine Hand auf die Aktenmappe. »Der Polizeibericht über die Ermordung Ihrer Verlobten ist hier drin«, sagte er. »Da ist auch ein Foto. Möchten Sie es gern sehen?« Costello blinzelte, und sein Kopf zuckte zurück. »Nein, kann ich mir nicht vorstellen … Aber da ist noch ein anderes Foto, das ich Ihnen gern zeigen würde.« Während Costello ihn argwöhnisch musterte, holte Mustafa seine Brieftasche hervor und zog einen abgegriffenen Schnappschuss heraus. Er legte das Bild auf den Tisch und schob es nach vorn, während er dabei den Arzt beobachtete und im Geiste die Mutter aus dem Musik-Markt sah.
»Ich kenne diese Frau nicht«, sagte Costello.
»Nein, woher denn auch«, sagte Mustafa. »Ihr Name war Fadwa bint Harith. Sie war meine Frau. An dem Morgen,als die Türme einstürzten, hatten wir einen Streit. Ich war im Unrecht, und das wusste ich, und so war ich natürlich besonders wütend. Als ich zur Arbeit fahren musste und mein Auto nicht anspringen wollte, nahm ich ihres. Sie musste an dem Morgen ebenfalls ins Zentrum, nicht weit von meinem Büro, aber anstatt sie zu fahren, ließ ich sie stehen, sodass sie die U-Bahn nehmen musste. Die Zwei, eine der Linien, die unter dem Tigris-und-Euphrat-Plaza entlangfuhren.
Sie können sich vorstellen, wie die Geschichte endet, Dr. Costello. Und vielleicht würden Sie es nicht für vermessen halten, wenn ich sagte, dass ich zu verstehen glaube, was für ein Gefühl es für Sie war, Ihre Jessica zu verlieren. Aber das wäre zu simpel. Wir haben dieses eine gemeinsam, Sie und ich, aber es gibt auch Unterschiede.
Ein Unterschied«, sagte Mustafa und legte wieder die Hand auf die Aktenmappe, »ist der, dass es kein Foto vom Leichnam meiner Frau gibt, vor dem ich mich fürchten könnte. Fadwa ist eine der Vermissten vom 9. November. Ich weiß, dass sie tot ist – ja, ich würde behaupten, dass ich es wusste, bevor es überhaupt geschah –, aber es gibt dafür keinerlei Beweis.
Nun, ich weiß nicht, wie viel Sie über die traditionellen Rechtsschulen des Islam wissen, Dr. Costello. Wenn es um Vermisste geht, divergieren die Meinungen der Gelehrten, wie lange man warten müsse, bevor man sie für tot erklären lassen darf, zum Teil erheblich. Die von den Hanafiten vertretene, strikteste Auffassung lautet, bei Fehlen eines positiven Beweises müsse man davon ausgehen, dass die vermisste Person bis zum Zeitpunkt ihres zu vermutenden Todes aus Altersschwäche noch am Leben ist. Wenn ein junger Mensch verschwindet, kann dies also unter Umständen eine Wartezeit von bis zu sechzig oder siebzig Jahren bedeuten. Dies ist eine sehr strenge Regelung, insbesondere für Frauen, die ja nur einen Ehemann haben dürfen.
Hier im Bundesstaat Irak folgen wir der liberaleren Regelung der malikitischen Rechtsschule, die eine Wartezeit von lediglich vier Jahren vorschreibt. Doch da ist ein Haken: Die Vier-Jahre-Uhr fängt erst in dem Moment an zu ticken, wenn man vor einen Richter tritt und die Person als vermisst meldet.
In Fadwas Fall widerstrebte es mir, zum Richter zu gehen. Ich wusste, dass sie tot war, ich zweifelte nicht daran, aber trotzdem schob ich es aus irgendeinem eigensüchtigen Motiv immer weiter hinaus. Als Fadwas Vater davon erfuhr, war er sehr wütend auf mich – er warf mir Feigheit vor. Schließlich überzeugte mich mein Vater von der Notwendigkeit dieses Schrittes. Aber da ich ihn so lange hinausgeschoben hatte, wurde die amtliche Todeserklärung erst vor Kurzem ausgestellt. Das hat mich mitgenommen. Mein Verhalten ist seitdem … sprunghaft. Mein Chef macht sich tatsächlich Sorgen um meine Zurechnungsfähigkeit.
Wie steht’s mit Ihnen, Dr. Costello? Hat es für Sie die Sache eher leichter oder schwerer gemacht, die Leiche Ihrer Verlobten gesehen zu haben, was meinen Sie? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viel leichter war. Sind Sie durchgedreht? Könnte ich mir vorstellen, ja. Und wieder bin ich versucht zu sagen, dass ich Sie verstehe. Doch das bringt uns zum anderen Unterschied zwischen uns beiden.«
Mustafa schlug die Aktenmappe auf und holte nicht nur ein, sondern gleich mehrere Opferfotos heraus. Er begann, sie nebeneinander auf dem Tisch anzuordnen, und Costello, der ihm aufmerksam zugehört hatte, zuckte jetzt auf seinem Stuhl zurück, als ob Mustafa glühende Kohlen auf ihn schaufeln würde.
»Schauen Sie genau hin, Herr Doktor«,
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