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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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verschnörkelte Schriftzug am oberen Rand der Titelseite sagte Samir nichts, aber Amal, die dank ihres Französischunterrichts auf der Oberschule etwas vertrauter mit dem lateinischen Alphabet war, gelang es zu erschließen, dass es sich dabei – tatsächlich oder angeblich – um eine amerikanische Publikation handelte: »New York … Times«, entzifferte sie.
    Das Foto oberhalb des Falzes hatte etwas schaurig Vertrautes: Zwillingswolkenkratzer, der eine teilweise von dem schwarzen Rauch verfinstert, der aus seinen Seiten quoll, der andere umhüllt von einer sich ausbreitenden Woge vonFlammen. Doch das waren weder die Tigris-und-Euphrat-Türme noch ähnelte die Hängebrücke mit den steinernen Pylonen im Vordergrund des Bildes irgendeiner Brücke von Bagdad.
    »Etwas aus dem Krieg?«, spekulierte Amal in zweifelndem Ton.
    »Ich würde eher auf Fotobasar tippen«, sagte Samir. »Ich glaube nicht, dass es in Amerika so hohe Gebäude gibt. Außerdem sieht es unecht aus. Kannst du die Schlagzeile lesen?«
    »›Angriff auf die USA … zerstört Türme‹, dann etwas von irgendeinem ›Pentagon‹. Und das letzte Wort ist ›Terror‹.«
    »Warte mal.« Samir tippte mit dem Finger auf das Datum. »Was für ein Monat ist das?«
    »September. Der 12. September 2001.«
    Samir lachte. »Der 12. September … Dann war der Tag davor also der 11. September … nach amerikanischer Schreibung ›9/11‹, verstehst du? Diese Türme befinden sich auf dem Territorium der magischen Supermacht Amerika. Und die Typen, die mit den Flugzeugen da reingerauscht sind, müssen diese armen arabischen Dritte-Welt-Versager gewesen sein …«
    Im vorderen Teil der Wohnung ertönte ein lauter Knall. Sie hörten Schritte im Wohnzimmer. »Vielleicht war ich zu vorschnell, was die Mikrowelle anging«, sagte Amal.
    Stirnrunzelnd steckte Samir den Kopf durch die Tür. »Hey!«, rief er. »Wer ist da?«
    Die einzige Antwort war plötzliche Stille. Eher ärgerlich als besorgt ging Samir durch das Schlafzimmer nach vorn und sagte: »Hier ist der Heimatschutz! Wer immer Sie sind – wenn Sie keine Bundesmarke haben, sollten Sie jetzt schleunigst ver…«
    Als Samir das Wohnzimmer betrat, wurde er von der Seite angegriffen, gegen den Kopf geboxt und mit dem Gesicht zur Wand herumgeschleudert. Er versuchte, mit demEllbogen nach hinten zu schlagen, aber ein stechender Schmerz in den Nieren ließ ihn in die Knie gehen, und dann spürte er die Mündung einer Schusswaffe im Genick.
    Ein zweiter Angreifer war ins Schlafzimmer gerannt und über Amal hergefallen. Samir hörte ihren Aufschrei, dann das Scheppern ihrer Pistole, die ihr aus der Hand geschlagen wurde. Er sah aus dem Augenwinkel, wie sie an den Haaren ins Wohnzimmer gezerrt und zu Boden gedrückt wurde; ihr Angreifer hockte sich auf sie, hielt ihr eine MP ins Genick und befahl ihr, still zu liegen. Das einzig Positive an der ganzen Geschichte war, dass der Bewaffnete ein Araber war, also wahrscheinlich kein Terrorist.
    Eine Stimme fragte barsch: »Wer sind Sie?«
    »Ich hab’s Ihnen doch gesagt, wir sind vom Heimatschutz«, sagte Samir, schnappte dann nach Luft, als die Waffenmündung zustieß. »Heimatschutz, verdammt noch mal! Der Ausweis steckt in meiner Tasche.« Eine grobe Hand war schon in seinem Jackett und holte erst seine Pistole, dann seinen Dienstausweis heraus.
    »Dem Heimatschutz ist befohlen worden, sich von dieser Wohnung fernzuhalten. Was tun Sie dann noch hier?«
    »Wir haben keinen solchen Befehl erhalten.«
    »Sie lügen.« Eine Pause, während der Sprecher Samirs Ausweis untersuchte. »Samir Nadim … Woher kenne ich diesen Namen?«
    »O Gott«, sagte Samir. Diese Stimme … »Idris?«
    Er wurde gewaltsam auf die Füße gestellt, herumgedreht und wieder gegen die Wand gestoßen. Sein Angreifer war, wie der von Amal, mit einer Maschinenpistole bewaffnet, aber Samir streifte die MP lediglich mit einem Blick, bevor er seine Aufmerksamkeit auf einen dritten Mann richtete, eine hochgewachsene bärtige Gestalt, die, leicht nach links versetzt, hinter dem Bewaffneten stand.
    »Idris«, sagte Samir, alles andere als erfreut. »Du bist es wirklich.«
    »Babyspeck-Samir«, sagte Idris. »Mittlerweile nicht mehr ganz so speckig, wie ich sehe. Treibst dich aber immer noch mit Vorliebe an Orten herum, an denen du nichts zu suchen hast.«
    Samir wurde ärgerlich. »Wir haben jedes Recht, hier zu sein! Wir führen eine Ermittlung …«
    »Der Fall ist euch entzogen worden, wie du sehr wohl

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