Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Wohnzimmer, würdigte mich keines Blickes, sondern ging gleich zur Malerin, gab ihr nach einem kurzen Wortwechsel ihre Visitenkarte und Geld und wurde dann zur Tür hinausbegleitet.
Jetzt erst konnte ich Frau Mertens richtig begrüßen. Wir umarmten uns herzlich, als wären wir beste Freundinnen.
„Sagen Sie bitte Mira zu mir! Das ist doch viel angenehmer und nicht so steif. Klara, sei ein gutes Kind und hole die Torte aus dem Kühlschrank.“
Mira zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Ich bin die Einzige, die zu ihr „Kind“ sagen darf“, flüsterte sie.
Die Torte entpuppte sich als ein wahres Prachtstück. Eine dreistöckige, glänzende Buttercremetorte in „weiß und schwarz“ prangte auf dem Tisch. Klara holte auch noch den duftenden Kaffee rein und dann saßen wir einträchtig beisammen und schmausten und plauderten. Die Vanille- und Schokocreme war überaus gut gelungen. Nicht zu süß, aber süß genug! Nicht zu fettig, aber gehaltvoll genug! Das aufwändige Muster oben auf der Torte war mit einem Spritzbeutel gemacht. Und mit Hingabe. Und eindeutig ohne Angst vor Kalorien!
Nach unserem Kaffeekränzchen nahm Klara ihre Skizze (leider konnte ich darauf keinen Blick mehr werfen) und verabschiedete sich von uns.
Mira und ich räumten einträchtig das Geschirr in die Küche und der Rest der Torte kam in den Kühlschrank. Dann nahmen wir uns jede einen Becher Kaffee mit in den Garten hinaus. Diesmal kam ich ohne größere oder kleine Zwischenfälle bei der Gartenbank an und betrachtete dort zuerst Thaddäus. „Guck mal, du Drache, meine Beule!“ Spaßeshalber neigte ich sogar meinen Kopf zu ihm hin, damit er das Malheur deutlich sehen konnte. Mira und ich lachten uns an. Ich nahm dann meinen Mut zusammen und sagte: „Mira, ich habe das Ringbuch zum größten Teil gelesen. Ich möchte Ihnen aufrichtig danken, dass ich es lesen darf. Es ist das Erschütterndste, was ich je über eine Familie gelesen habe.“ Mehr konnte ich nicht sagen, aber ich griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz, um meinem Mitgefühl wortlos Ausdruck zu verleihen.
Sie lächelte mich wissend an und erwiderte den Händedruck. „Melissa, wissen Sie, es ist schon so lange her, so viele, viele Jahre. Dennoch sind die Ereignisse immer noch in mir lebendig. Aber sie haben nicht mehr die Macht, mich zu überwältigen. Wir leben einträchtig miteinander, die Erinnerungen und ich. Es musste so sein damals. Es musste sein.“ Sie schaute nun sehr ernst und schlug dann die Augen nieder, so als hätte sie zu viel von sich preisgegeben.
„Aber lassen Sie uns heute nicht davon reden. Ich will lieber den Garten in dieser frühen Abendstunde mit Ihnen gemeinsam genießen. Sie sehen viel besser aus, meine Liebe, Sie scheinen sich erholt zu haben?“
Das konnte ich nur bestätigen.
„In der nächsten Ausgabe von „FRiZ“ wird das Interview erscheinen, die Reportage heißt: „Die weisen Frauen der Zeitenwende“. Sie erhalten natürlich ein kostenloses Belegexemplar.“
Mit einem Mal ging mit Mira eine Veränderung vor sich. Mir kribbelte es auf der Haut. Sie sah plötzlich etwas jünger aus und hatte strahlende Augen wie ein junges Mädchen, das mit unendlicher Vorfreude zum ersten Sommerball geht.
Sie legte mir ihre Hand auf den Arm und sagte leise: „Melissa, er ist hier! Hier bei uns.“
„Wer?“ Ich schaute verständnislos drein.
„Mein Engel!“
Vor vier Tagen noch wäre mir in diesem Moment eine respektlose Anmerkung durch den Kopf gegangen, aber inzwischen kannte ich die alte Frau zu gut. Ich wusste nicht, wen oder was sie sah, aber dass sie „sah“, das merkte ich deutlich.
Mira lauschte nach Innen und begann leise zu sprechen:
„Mein Engel hat jemanden mitgebracht. Dieses Geistwesen zeigt sich als ein kleines Kind, ein Knabe von etwa drei Jahren. Er hält einen zerbrochenen Becher oder Kelch in der Hand, aus dem eine kleine Schlange kriecht, wie ungewöhnlich! Er hat lockiges Haar, das so wie Ihres ist! Ein schönes Kind mit einem ganz warmherzigen Lachen. Der Junge verzieht jetzt schmerzlich das Gesichtchen und drückt seine Hände auf die Herzgegend. Mein Engel sagt, er wäre Ihr Schutzgeist, sie hätten nicht nur Ihren Schutzengel von Geburt an, diese Seele würde sie zusätzlich mit großer Liebe begleiten. Er würde Ihnen auch helfen, wenn Sie auf der Brücke stehen. Der Junge versucht jetzt, mir seinen Namen zu nennen, ich kann es nicht genau empfangen, es klingt so ähnlich wie Benny. Ja, Ben oder Benny.
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