Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
er kam hoffentlich nicht in die Küche rein! Am liebsten hätte ich mich im Schrank verkrochen.
Doch dann schlich ich zur Tür und lauschte konzentriert, denn was ich unfreiwillig hörte, ließ Ungutes erahnen.
Als Johanna um die Mittagszeit aus ihrem Schlaf erwachte, hatte sie einen appetitanregenden Duft in der Nase. Es roch nach frisch gebackenem Kuchen und da merkte sie erst, wie hungrig sie war und wie viel Kraft ihr der Morgen abverlangt hatte. Wenigstens hatten die Kopfschmerzen etwas nachgelassen und ihr Nacken war auch nicht mehr gar so verspannt. Aber sie hatte einen ganz furchtbaren Geschmack im Mund.
Die letzten zwei Wochen, von dem Nachmittag an, an dem Melissa ihr von der Vision erzählt hatte, waren sehr schlimm für sie gewesen. Sie hatte Alpträume erlitten, in denen Benito seine Ärmchen nach ihr ausstreckte, aber er glitt immer weiter zurück, je mehr sie ihn zu erreichen versuchte. Anstelle des Kindes erschien ihr dann ihr Geliebter, sein Vater in seiner Mönchskutte, beschimpfte sie und schwang drohend ein kleines Kreuz, an das sie selbst genagelt war. Es war im Grunde immer derselbe Traum, aber in unterschiedlichen Versionen, eine schmerzlicher als die andere. Die Träume hatten erst nachgelassen, nachdem sie begonnen hatte, sich mit Alkohol zu betäuben. Sie hatte es einfach nicht mehr ertragen können. Diese Schuldgefühle, diese Trauer, diese Scham und Ausweglosigkeit. Könnte sie doch nur die Zeit zurückdrehen!
Sie versuchte, sich an die genauen Worte zu erinnern, die die alte Frau heute Morgen zu ihr über die Schuld gesagt hatte.
„Niemand, kein Mensch hat allein die Macht über Leben und Tod. Das steht uns nicht zu. Es ist immer eine Sache zwischen Gott und der Seele eines Lebewesens. Es ist ein Mysterium, das wir nicht durchschauen. Noch mal: Es trifft Sie keine Schuld, keine Schuld!“
Keine Schuld, keine Schuld…es ist ein Mysterium!
Johanna fasste den Entschluss, mehr hören zu wollen. Sie ging auf wackligen Beinen in die Küche, die sie nicht lange suchen musste, denn dafür brauchte sie nur ihrer Nase zu folgen.
Mira hatte ihre geliebte Rüschenschürze mit Rosenmuster umgebunden. Sie sah aus wie das Gestalt gewordene, lebende Klischee einer perfekten Großmutter. Sie werkelte in der Küche und hörte nicht, wie ihr Gast die Küche betrat. Konzentriert nahm sie die dunkelroten, gehäkelten Baumwolltopflappen in die Hände und holte ein heißes Blech aus dem alten Ofen, der seine besten Tage ganz offensichtlich bereits lange hinter sich gelassen hatte. Auf dem Blech knusperte und dampfte Blätterteiggebäck und auf dem Küchentisch stand ein großer Teller mit Schnittchen. Der Kaffee tröpfelte noch durch den Filter in die Glaskanne. Es war ein Bild wie aus der „guten alten Zeit“. Einer Zeit, in der Johanna ein kleines Kind war, das in Liebe und Geborgenheit aufwuchs. Ihr wurde weich und warm ums Herz, als sie an ihre Eltern dachte, die leider auch viel zu früh gestorben waren. Sie hatte niemanden mehr außer Melissa und Ursula. Und Walther natürlich. Ein Gefühl der Einsamkeit drohte sie zu überwältigen. Aber sie kämpfte dagegen an. Sie wollte jetzt mehr hören, von Engeln und von den Geistern der Vergangenheit. Und was Gott (wenn es ihn denn wirklich gab) von ihr wollte! Das wollte sie die Engel fragen. Sie wollte Klarheit.
„Mira?“
„Ah, Johanna.“ Mira drehte sich lächelnd zur Küchentür um. „Kommen Sie, ich habe uns eine Kleinigkeit zu essen gemacht.“
Johanna beäugte den Berg belegter Brote und das Blech mit 12 Stückchen Kuchen, akkurat in drei Reihen angeordnet. Eine Kleinigkeit?
Mira band ihre Schürze ab und hängte sie sorgfältig an den Messinghaken neben dem Herd. Es war ein Erbstück von ihrer Mutter und sie hegte und pflegte diese Schürze aus altem, wertvollem Leinen.
„Wir sollten uns jetzt stärken. Ich spüre die Gegenwart der Engel und Seelen immer deutlicher. Sie sind bereit für uns. Machen wir uns also auch bereit für sie!“
Johanna griff beherzt zu, ebenso wie Mira. Sie schätzte die alte Dame auf 68 oder 70 Jahre. Ihre Gesundheit schien recht robust zu sein, angesichts der Mengen, die sie verdrückte.
Mira grinste spitzbübisch. „Ich bin 74 Jahre alt! Gucken Sie nicht so erschrocken, nur weil ich weiß, dass Sie über mein Alter nachgedacht haben. Wissen Sie, wenn die Engel so nahe sind, dann kann ich manchmal auch etwas Gedanken lesen. Es fliegt mir einfach so zu! Noch eine Tasse Kaffee?“
Johanna
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