Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Großer Gott! Innerlich angespannt las ich, dass die OP sechs Stunden andauerte. Die Ärzte waren fassungslos, denn es war so extrem selten, dass ein gutartiges Teratom doch entartete. Als wäre das allein nicht schlimm genug, hatten sich auch viele Metastasen im Kleinhirn gebildet. Sobald er sich von der großen OP erholt hätte, sollte er in einer anderen Klinik einer Strahlenbehandlung und Chemotherapie unterzogen werden.
Wie viel kann ein Mensch ertragen, fragte ich mich erneut. Was ich als nächstes las, überstieg das Maß dessen, was ICH ertragen konnte:
Kurz bevor Martin in die Medizinische Hochschule verlegt werden sollte, bekam er Lähmungserscheinungen an der linken Körperseite. Sein Zahnbecher fiel ihm aus der Hand, er hatte wieder stärkere Doppelbilder und er hatte leicht erhöhte Temperatur (37,4°C). Niemand konnte es so recht deuten. Am nächsten Tag, als mein Mann, Markus und ich bei Martin zu Besuch waren, geschah etwas Furchtbares.
Die große Narbe am Hinterkopf öffnete sich an einer kleinen Stelle und etwas Eiter und Blut traten aus! Die Krankenschwestern, die Martins kleine Lähmungserscheinungen erst noch abgetan hatten als „Hysterie und Wehleidigkeit“, liefen plötzlich alarmiert umher und ein Arzt wurde schleunigst herbeigeholt. Allen stand das Entsetzen im Gesicht und Martin wurde abwechselnd blass und rot. Gott sei Dank war gerade der OP frei geworden und er wurde sofort in Narkose versetzt. Wir standen alle unter Schock. Mein Mann und Markus, denen schlecht geworden war, fuhren nach Hause und ich blieb in der Klinik, wartete Stunde um Stunde, bis der Diensthabende zu mir kam und sagte, Martin hätte noch mal Glück im Unglück gehabt, der Schädelknochen sei zwar infiziert, aber die Hirnhaut sei noch intakt. Postoperative Infektionen wären extrem selten, er könne es sich nicht erklären und es täte ihm so leid. Martin würde nun erst mal auf der Intensivstation bleiben müssen und hochdosierte Antibiotika intravenös bekommen. Da ich an diesem Tag nicht mehr zu ihm durfte, fuhr ich nach Hause.
Geschockt, verbittert, verzweifelt.
Eigentlich wollte ich jetzt das Buch aus der Hand legen und nie wieder anfassen. Aber dann dachte ich mir, die Familie hat das alles erlebt und musste das aushalten. Durch das Lesen war ich zu einem Zeugen geworden und ich wollte nicht feige sein und es aus einem Gefühl der Solidarität heraus auch aushalten, bis zum Ende. Ich ahnte, dass es ein bitteres sein würde. Aufgewühlt las ich weiter:
Die Ärzte hatten Martin in ein künstliches Koma versetzt. Leider war der Professor im Urlaub, aber sein medizinischer Stab hielt telefonisch Kontakt zu ihm. Man erklärte mir, eine infizierte Wunde dürfe nicht geschlossen werden, weil sich sonst die Bakterien unter Luftabschluss wieder vermehren würden. Der Knochen war vereitert, er war nicht mehr zu retten. Jeden Tag fuhr ich zu Martin in die benachbarte Stadt, wo das Medizinische Zentrum war, hielt seine fiebrige Hand und streichelte ihn, sprach mit ihm, weinte an seinem Bett. Sein Beutel mit den Heilsteinen, den er seit seiner Erkrankung getragen hatte, hing nun über ihm am Kopfende und ich hoffte, sie würden zu seiner Heilung beitragen. Die Schwestern hatten mir geraten, ich solle von Zuhause ein oder zwei seiner Kuscheltiere mitbringen, damit er etwas Vertrautes im Unterbewusstsein spüren konnte.
Die Tage vergingen, trotz ausgewählter Antibiotika wollte das Fieber nicht sinken, obwohl die Wunde inzwischen "rein" war. Jeden zweiten Tag hatte man die Wunde chirurgisch gesäubert und langsam wuchs sie zu. Das Fieber widersprach. Eines Nachts dann hatte der Diensthabende "ein ungutes Gefühl", er überprüfte Martins Pupillen und fand sie starr. Martin lag im Sterben! Er wurde in den OP gebracht, es zeigte sich, dass drei große Eiterherde sich zwischen den Hirnhälften gebildet hatten! Die Infektion hatte also doch nicht Halt gemacht vor der Hirnhaut. Sie kam von innen nach außen – nicht umgekehrt! Zwei Eiterherde konnten von den Neurochirurgen entfernt werden, doch der dritte lag tief zwischen den Hirnhälften, ganz tief im Kopf. Nicht mal der Oberarzt traute sich da ran.
Der Professor kam aus seinem Urlaub zurück und kümmerte sich um den verbliebenen Eiterherd. Es war eine lebensgefährliche OP, aber "nichts tun", wäre noch gefährlicher gewesen.
Martin war noch nicht bereit zum Sterben. Er überlebte es.
Nach einiger Zeit (ich weiß gar nicht mehr, nach wie vielen Wochen?) konnte er
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