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Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)

Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)

Titel: Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlies Lüer
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und weinten.
    Danach fiel Martin in Schweigen. Und dann war es, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden. Er verdrängte komplett und machte mit der Fernbedienung den Fernseher an. In den Fingern hatte er noch einen Rest Kraft.
    Genauso wie er hatte auch ich etwas verdrängt. Nämlich einen Traum, der mir seinen Tod unmissverständlich ankündigte. Ich kann nicht mehr sagen, wann er zu mir kam. Sicher lange vor diesem Tag der unausweichlichen Wahrheit.
    Ich träumte von einem Weg, der sich gabelte. Nach links ging Markus vor uns Eltern her, dieser Weg hieß Freiheit, Offenheit, Sicherheit. Mein Mann und ich wollten auch dorthin gehen, aber wir merkten, dass Martin fehlte. Sein Weg endete weitab in einer Sackgasse in einem leeren Raum. Wir eilten zu ihm. Da war eine geistige Präsenz, nicht böse - aber fest und unerbittlich, alt und ehrwürdig wie ein Priester. Sie verkündete wortlos, dass sein Tod beschlossene Sache sei, er würde sterben, kein Weg würde daran vorbeiführen. Wir standen bei Martin und konnten nichts tun, außer für ihn da zu sein. Dann endete der Traum.
    Im Grunde hatte ich tief in meinem Inneren seit langem gewusst, dass Martin an dieser Krankheit sterben würde, aber ich hatte immer gehofft, er könne umkehren und die Sackgasse verlassen.
    Das Pflegepersonal im Hospiz, wohin er dann alsbald auf unseren Wunsch verlegt wurde, gab sich sehr viel Mühe. Es war für sie schwer zu ertragen, einen 15jährigen beim Sterben zu begleiten, sie hatten bisher immer nur alte Menschen im Hospiz gehabt. Die Pfleger hatten schon vor unserer Ankunft einen Fernseher für Martin besorgt und er war sehr zufrieden mit der neuen Umgebung. Zu diesem Zeitpunkt konnte er immer noch seine rechte Hand etwas bewegen. Sie organisierten sogar einen Krankengymnasten, der mit dem rechten Arm trainierte, weil Martin glaubte, dass dieser Arm noch mal kräftig werden würde. Wir ließen ihm diesen Glauben. Ein Mensch darf nicht ohne jegliche Hoffnung sein.
    Tag und Nacht blieb ich bei Martin und kümmerte mich um seine Bedürfnisse. Wir richteten ihm das schöne Zimmer mit persönlichen Gegenständen ein. Ich brachte seine Lieblingsmusik mit. Die Tage vergingen, Martin wurde immer hinfälliger und müder und brauchte mehr und mehr schmerzlindernde Medikamente. Sein Dekubitus am rechten Fuß, den er noch aus der Zeit auf der Intensivstation hatte, trocknete langsam ab und verschorfte. Ich lernte viel über Pflege eines Schwerstkranken.
    Meine Freundin sorgte dafür, dass ich nicht 24 Stunden am Tag bei Martin im Zimmer blieb. Sie ging mit mir spazieren, lud mich zum Essen ein und fuhr mit mir zu einer Gärtnerei oder in ein Büchergeschäft, damit ich Ablenkung hatte.
    Auch mein Mann war sehr fürsorglich und lieb und ging mit mir am Wochenende im Wald spazieren, und wir frühstückten manchmal in einem Café. Wochentags musste er arbeiten gehen und sich um Markus und den Haushalt kümmern. Aber es zog mich immer sehr bald zu Martin zurück. Niemand wusste, wie lange er noch leben würde und ich wollte ihn nicht alleine sterben lassen.
    Eines Tages konnte der Blasen-Katheter nicht mehr eingeführt werden und Martin musste per Krankenwagen ins nächste Krankenhaus in die Urologische Abteilung gebracht werden. Er brauchte viel Beruhigungsmittel, dämmerte so vor sich hin und zitterte dennoch am ganzen Leib. Man legte ihm durch die Bauchdecke einen Dauerkatheder. In meinem Beisein! Es war nur ein kleiner Eingriff. Aber ich hatte schon miterlebt, wie die Narbe am Hinterkopf sich öffnete und Eiter absonderte, und anderes, und nun musste ich auch noch mit ansehen, wie ihm der Bauch aufgeschnitten wurde und sein Urin spritzte durch die Bauchdecke, wenngleich es nur ein winziger Schnitt war. Woher nahmen Ärzte die Erwartungshaltung an die Mütter oder Väter, dass sie dies alles mit ansehen und ertragen könnten?
    Wo lag meine Grenze des Ertragbaren? Ich hatte sie schon lange überschritten.
    Manches Mal in der Nacht rang ich mit Gott, dem Herrn. Ich reckte ihm im Geiste voller Wut meine Faust entgegen und rief: WAS NOCH? WAS WILLST DU UNS NOCH ALLES ZUMUTEN?
    Ich bekam keine Antwort.
    Oder doch?
    Ich träumte von einem Kalender, ich sah den 15. Mai und verschwommen noch drei weitere Tage.
    Am 18. Mai war es dann soweit. Martin ging ganz leicht hinüber in die nächste Welt.
    Am Tag zuvor hatte meine hellsichtige Freundin Schatten an seinem Bett gesehen, so wie sie während ihrer langen Dienstzeit als Krankenschwester auf der

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