Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
eingespannt. Die meiste Last der Pflege trug aber Frau Mertens allein. Sie verschmolz förmlich mit den Bedürfnissen des Jungen und plünderte ihre letzten Kraftreserven. Sie schrieb:
Die monatelange Chemotherapie war sehr anstrengend, nicht nur für Martin. Nach einer Woche Therapie durfte er für zwei, drei Wochen nach Hause, bis das Blutbild sich gebessert hatte. In dieser Zeit war er rund um die Uhr auf Pflege angewiesen. Allein schon durch die restliche linksseitige Lähmung, durch den Hirnschaden und die Schwäche. Sein Magen war so ruiniert, dass er quasi wie ein Baby ernährt werden musste. Oft hatte er Appetit auf was "Kräftiges" doch er erbrach es immer wieder, auch kleine Portionen. Insgesamt nahm er 20 kg ab, die Narben an seinem Körper (so um die 20 Stück mittlerweile!) leuchteten rot. Sein Hinterkopf hatte eine große Beule nach innen, weil der Knochen fehlte. Das Druckventil vom Shunt lag unter der Kopfhaut oben rechts und er hatte keine Haare mehr. Er hatte sich sehr verändert. Nicht nur äußerlich. Martin war auch ein anderer Mensch geworden.
Nach der ersten OP war er noch das aspergertypische Kind gewesen, ungeduldig, egozentrisch, gierig.
Mittlerweile war er ruhig und abgeklärt, dankbar, mitfühlend, demütig und "weise". Eine ganz typische Entwicklung bei Krebskindern. So angenehm es auch für uns war, es machte mir auch Angst. Er war so "fertig" in seiner Persönlichkeitsentwicklung. So vollendet.
Die Chemotherapie bewirkte letztlich außer einer Schwächung seiner Lebenskraft gar nichts. Wenigstens wuchs der große Tumorrest nicht weiter, aber die kleinen Metastasen taten es! Im Kleinhirn wuchs ein neues Problem heran, welches ihm erhebliche motorische Schwierigkeiten und Gleichgewichtsprobleme verursachte. Er war fast vollständig auf den Rollstuhl angewiesen.
Jeden Tag rieb ich ihn mit einem Aura-Soma-Öl ein: Rot-Weiß / Der Christus.
Martin hatte es selber ausgewählt, ohne um die nähere Bedeutung zu wissen. Es duftete herrlich nach Zitrusfrüchten und er genoss die Zuwendung und Streicheleinheiten. Auch sein Beutelchen mit den verschiedenen Heilsteinen lag immer unter dem Kopfkissen, oder er trug es dicht am Körper.
Gegen Ende des Jahres begann dann die Strahlentherapie. Nicht nur das Gehirn, auch die Wirbelsäule wurde bestrahlt. Wir fuhren nun täglich Montag-Freitag von zuhause mit dem Taxi in die benachbarte Stadt. Das war sehr anstrengend. Nach einigen Wochen musste die Bestrahlungsserie unterbrochen werden, weil die Thrombozytenzahl so tief abgesunken war, dass innere Blutungen zu befürchten waren. Ebenso waren die roten und weißen Blutkörperchen stark vermindert und Martin brauchte wieder Bluttransfusionen. Irgendwann während der Chemo-Zeit hatten wir aufgehört, diese mitzuzählen. Wir waren mehr im Krankenhaus als zuhause.
Seinen 15. Geburtstag feierte er im Kreise der Familie und einigen Freunden aus der Lebenshilfe. Es war August und für das kommende Frühjahr, gleich nach Ostern, war eine Kur am Meer für ihn geplant, in einem Spezialtherapiezentrum für Kinder mit neurologischen Schäden. Diese Maßnahme musste nach zwei Wochen abgebrochen werden, weil eine vollständige Lähmung der Blase und des gesamten Unterkörpers auftrat. Er wurde in die neurologische Klinik an den Heimatort zurückverlegt. Das Undenkbare, dieser so überaus seltene Fall, war eingetreten: Er hatte unzählige winzige Tumoren innerhalb des Wirbelkanals. Trotz der Bestrahlung! Frau Mertens schrieb:
Das konnte doch alles nicht wahr sein! Alles war umsonst gewesen, die ganze Quälerei mit Chemo und Bestrahlung. Ich konnte doch nicht zu meinem Kind gehen und sagen: Es tut mir leid, der Krebs ist wieder da und wir können nichts mehr dagegen tun...
Wir saßen mit dem Professor wie betäubt in diesem Besprechungsraum und rangen mit uns.
Gott, was sollten wir tun? Was sollten wir ihm sagen?
Der Professor sagte, er hätte in seiner langen Laufbahn nie einen so schweren Krankheitsverlauf erlebt!
Wir einigten uns darauf, vorerst nur die halbe Wahrheit zu sagen. Und die war schon grausam genug. Völlig gelähmt, den Rest seines Lebens.
Die Krise kam bald. Martin realisierte die ganze Wahrheit, weinte und klagte sein Leid, ich hielt seine Hand und meine Schwester, die gerade zu Besuch war, die andere. Martin sah im Tod Erlösung und wollte sterben und bat mich um Verzeihung dafür, doch ich sagte ihm: „Es ist gut, mein Kind, du darfst sterben...Ich verstehe das.“ Und wir weinten
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