Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
das bloße Funktionieren als Mensch, sie hatte das Gefühl von Irrationalität, so als wäre sie „im falschen Film“, als wäre ihr Leben gar nicht ihr Leben sondern ein Irrtum, ein Alptraum. Die innere Distanz zur Realität ging sogar so weit, dass sie sich über Monate hinweg von ausgewählten Personen mit einem anderen Namen anreden ließ. Anfangs besuchte sie mehrmals am Tag das Grab, die Häufigkeit nahm dann nach und nach ab. Sie legte ihre Handflächen auf die nackte Erde, das war alles, was ihr an Kontakt zu seinem Körper blieb. Manchmal, wenn sie sich zuhause in seinem Zimmer aufhielt, nahm sie seine Torwarthandschuhe und drückte sie an ihr Herz.
Schmerz, alles war Schmerz!
In den folgenden Jahren ging es auf und ab mit ihr. Sie bekam schwere somatisierte Depressionen, war zutiefst erschöpft und nervlich am Ende. Ihr Gedächtnis wies weiterhin große Lücken auf. Sie fing an, die „Außenwelt“ zu meiden, denn dort war es laut und Erinnerungen überfielen sie an prägnanten Orten, wo sie oft mit ihrem Martin gewesen war. Sie konnte ihn förmlich „sehen“, so als wären Echos von ihm immer noch in der Welt.
Sirenen von Feuerwehr und Krankenwagen brachten sie sofort zum Weinen, selbst fröhliche Umzüge mit Trommeln und Flöten waren purer Stress. Die Klänge durchfuhren sie wie Schläge, drangen ihr ins Mark und verursachten Panikgefühle. Gleichzeitig unterdrückte sie die Tränen, verkrampfte sich, hatte das Gefühl, sich in Gesellschaft anderer zu blamieren und andere mit ihren Tränenausbrüchen zu belästigen. So baute sie großen inneren Druck auf.
Bis dieser Druck sich schließlich in einem „geplatztem Blinddarm“ mit Bauchfellvereiterung entlud. Es kam durch die Hausärztin zuerst zu einer Fehldiagnose. Tage später im Krankenhaus wurde durch eine Not-OP ihr Leben gerettet.
Der innere Druck verkörperte sich auch in einem Bluthochdruck, der anfänglich nur schwer mit Medikamenten einzustellen war. Wie ich wusste, nahm sie immer noch im hohen Alter Antihypertonika.
Doch Mira gab nicht auf. Sie erkämpfte sich Stück für Stück ihr Seelenlicht zurück. Ihr Heilmittel waren Stift und Papier, sie schrieb sich alles von ihrer Seele. Und sie träumte! Sie hatte viele tiefe Träume, auch mediale Träume in denen sie tatsächlichen Kontakt zu ihren Geisthelfern hatte und – sie schrieb: „der Herr sei gepriesen“ – auch zu Martin selbst.
Ich war fasziniert. Sollte so etwas tatsächlich möglich sein? Warum war mein Vater nie im Traum zu mir gekommen?
Es wunderte mich, dass sie ihren Gottglauben behielt. Ich meinte mich zu erinnern, dass sie kurz vor dem Todestag eine Art Wutanfall gegen Gott gehabt hatte. Kann man Gott lieben und ihm gleichzeitig zürnen? Nun, Mira konnte dies offenbar. Überhaupt fiel mir auf, dass die parallele Existenz von, sagen wir mal „Licht und Schatten“ für Mira kein Problem darstellte, sie empfand es als natürliche Ordnung einer „dualen Welt“. Im Gegenteil, es gab ihr Kraft und Lebensmut, dass das Schöne der Welt nicht „ausgelöscht wurde“ durch die negativen Seiten. Sie hatte nicht die Ansicht, dass diese sich gegenseitig neutralisierten – im Gegenteil! Das Schöne, zum Beispiel verkörpert durch das Gänseblümchen im Klinikhof oder durch den funkelnden Tau auf Herbstgräsern, wurde nur umso heller und liebenswerter, je mehr „Schlechtes“ ihr begegnete.
Ich merkte beim Lesen, wie schwer es ihr fiel, über diese Zeit zu schreiben. Es lag nicht nur an den Gedächtnislücken, die sie erwähnte - sie sträubte sich innerlich dagegen, in die Schwingung dieser speziellen Zeit ihres Lebens wieder einzutauchen. Auch schrieb sie auffallend wenig über ihren Mann und Martins Bruder, andere Angehörige oder die Freunde der Familie.
Zuletzt folgte eine lange Geschichte von einer „Seelenlandreise“. Wahrheit und Dichtung waren hier so innig ineinander verflochten, dass ich nicht unterscheiden konnte, was war Poesie, was war Tatsache. Ich hatte das Gefühl, dass das auch genauso für den Leser sein sollte. Mir schien, sie hatte hier in poetischen Bildern eine Zusammenfassung ihrer Lernerfahrungen gemalt. Das konnte kein echtes mediales Erlebnis gewesen sein, dafür war es viel zu lang.
„Eines Abends, nach einem Tag in großer Schwermut, konnte ich lange nicht einschlafen. Ich haderte mit mir und der Welt, meinem Leben und den wenigen Möglichkeiten, die ich für meine Zukunft erkennen konnte. Mir war klar, dass es so nicht weitergehen
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