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Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)

Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)

Titel: Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlies Lüer
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mich mit meiner Mutter. Wie sie mich fürsorglich fütterte, badete, mir meine Kleidchen anzog. Dann war ich größer, ging an ihrer Hand durch die Straßen. Ein Detail zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich konnte erkennen, dass mehrere, für das menschliche Auge unsichtbare Stränge wie graue Bänder Mutter und Kind verbanden. Es war die durch ein Leben als Waisenkind traumatisierte Psyche der Mutter, die diese Bindungen erschuf. Sie fesselte das Kind geradezu an sich.
    Ich sah auch dieses: Je älter ich wurde, umso mehr graue Bänder verbanden uns. Ich sah mit wachsendem Unmut, wie mein natürliches Wachsen und Reifen dadurch behindert wurde, wie ich kleingehalten wurde, sogar bis ins frühe Erwachsenenalter hinein und noch darüber hinaus. Meine Mutter liebte mich, kein Zweifel, aber noch mehr brauchte sie mich, ge-brauchte mich! Aber sie schien das gar nicht zu wissen. Dann spielte sich diese Erinnerung wie in Zeitlupe ab: Wir gingen die Hauptverkehrsstraße entlang, Hand in Hand. Ich war höchstens neun Jahre alt. Das Gesicht meiner Mutter war überschattet und sah gequält aus. Sie sagte leise, dass sie das Bedürfnis verspüre, unter den Lastwagen zu laufen. Sie kämpfte dagegen an. Ihre Hand hielt die meine ganz fest. Ich konnte nicht verstehen, warum sie so was sagte und fühlte mich verstört und ängstlich. Dann folgte eine wahre Sturzflut an Erinnerungen an ähnliche Begebenheiten, die ich längst vergessen hatte. Ich sah aber auch, wie wir in der Küche zusammen Kuchen backten und wie ich von ihr lernte, Geschenke ansprechend zu verpacken, einen Tisch schön zu decken und andere typische weibliche Beschäftigungen, die uns Freude bereiteten.
    Dir ist sicherlich klar, wie groß und tief die innere Not deiner Mutter gewesen war. Das hat dich geprägt und geformt. Du bist sehr einfühlsam, was eine wichtige menschliche Stärke ist. Allerdings hat dich das Wahrnehmen ihrer Depressionen auch davon abgehalten, eine gesunde Distanz einzuhalten. Aus lauter Mit-Gefühl hast du eine eigene Neigung zu depressiven Verhaltensmustern entwickelt. Ich wollte, dass du dir darüber Klarheit verschaffst, woher diese Muster stammen. Du siehst, du hast das „gelernt“, es ist dir nicht angeboren, es ist also kein unabwendbares Schicksal. Es ist dir möglich, deine depressiven Episoden zu mildern. Und mit der Zeit wirst du sie gänzlich abwenden können, denn du hast jetzt den Schlüssel dazu, diese destruktiven Energien umzuwandeln in Kraft und Wille und ihnen gesunden Ausdruck zu verleihen. Die Kraft nutzenderweise nach außen lenken und nicht verbergend nach innen!
    Ich nickte ernst. Das war für mich wirklich eine wichtige Information. Etwas Gelerntes konnte man ver-lernen. Oder besser gesagt: Ein Mensch kann neue Verhaltensweisen erlernen! Aber allein durch mein Mitgefühl war das nicht entstanden, wusste ich plötzlich. Ich runzelte die Stirn. Und fühlte, da ist noch etwas anderes, was ursächlich war für meine eigenen Depressionen.
    Was fühlst du? Und wo fühlst du es? Versetze dich gedanklich in deine Kinderzeit. Nimm dir bitte Zeit dafür und sage dann, was du erkannt hast.
    Mit geschlossenen Augen fühlte ich konzentriert in meinen Körper hinein. Es war nicht schön, was ich fühlte. Da war eine Angst, sie stach und brannte leise an der Innenwand meines Bauches. Mein kleines Kinderherz zog sich zusammen. Da war ein Kloß in der Kehle, da wollte was raus „und durfte nicht“. Ein Druck lastete auf meinen kleinen Schultern, sie hingen und ich duckte mich, machte mich kleiner als ich war. Mein Atem war gepresst. Die Händchen schweißnass. Genug. Genug davon! Schluss jetzt!! Es reicht!
    Mein erwachsenes Ich nahm einen tiefen Atemzug, richtete seine Wirbelsäule auf und nahm die Schultern zurück. Geräuschvoll atmete ich aus und ging mit offenen Augen erbost davon, stapfte über die Wiese zum nächsten Baum und setzte mich darunter.
    Das mich begleitende Geistwesen, das ich für einen Engel halte, lenkte sanft meine Wahrnehmung auf sich selbst und sprach:
    Was du eben als kindliches Ich gefühlt hast, war natürlich zeitlich komprimiert. Du hattest auch viel Wohlgefühl in deiner Kindheit, aber zur Verdeutlichung der Problematik war genau dieses bedrückende, pressende, lastende, begrenzende Gefühl im Körper nötig. Es war eine Spiegelung deiner psychischen Vorgänge.
    Derart eingeengt durch elterliche Erwartungen an ein „braves Kind“, das in ihrer Vorstellungswelt leise, höflich, gehorsam und angepasst

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