Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Grund abgeerntetes Feld. Trockene scharfe Halme, die aus der seltsam verfärbten Erde staken, bohrten sich in meine Haut und ich versuchte diesem Schmerz zu entkommen, aber ich konnte nicht aufstehen. Alles hier sah krank und schwach aus. Was war nur geschehen? „Raubbau“ kam mir in den Sinn. In einiger Entfernung sah ich eine Bauernkate. Aber ich konnte sie nicht aus eigener Kraft erreichen, ich wollte auf den nächstbesten Wagen warten, der mich dorthin bringen würde, wo ich Nahrung und Ruhe finden konnte. Ich wartete lange. Bis nach Sonnenuntergang. Dann begriff ich: Niemand würde kommen, mich zu retten. Ich würde verhungern, würde ich noch länger hier bleiben, und versuchen, noch etwas zu ernten, um mir ein Brot zu backen. Ein bitteres Brot wäre das, zu bitter, um es zu essen! Mit allerletzter Kraft kroch ich an den Rand des Feldes, mit blutenden Händen und Knien, denn das vertrocknete Stroh schnitt mir in die Haut. Ich robbte auf den Weg in Richtung Haus, wo ich mir Rettung erhoffte.
Im nächsten Moment stand ich tränenüberströmt wieder unter meinem Baum, wo die Reise begonnen hatte, mit Truhe und Karte in der Hand.
Wieso ist hier alles so schrecklich? Das kann nicht mein Land sein, so bin ich nicht! Ich schrie den Engel förmlich an und war entsetzt. Vielleicht ist das alles doch ein gigantischer Albtraum? Und der Engel kein Engel, sondern ein Quälgeist, der sich einen Spaß daraus machte, eine arglose Seele zu martern?
Wieder ging eine spürbare Welle der Herzenswärme und des Mitgefühls von der geistigen Präsenz aus. Sie durchdrang mich mit ihrer Liebe und linderte restlos meinen Schmerz.
Bitte, bitte beruhige dich. Ich bin ein Engel Gottes, der dich liebt und beschützt und leitet. Denk an die Worte deines irdischen Vaters, der dir in dein Kinder-Poesiealbum schrieb: „Licht und Schatten muss es geben, soll das Bild vollendet sein. Wechseln müssen drum im Leben tiefe Nacht und Sonnenschein.“ Dein Lebensbild zeigt, wie tief du in Nacht und Schatten eingetaucht bist, aber es enthält auch Bilder des schönsten Lichtes, du wirst es sehen!
Nun versuche bitte, dich zu erinnern, welche Zeit deines Lebens könnte mit dem Bild des bitteren Brotes gemeint sein? Und was kannst du daraus lernen?
Während ich meine Tränen trocknete, dachte ich zurück an meine ersten Jahre als Mutter. Wie müde und ausgelaugt ich doch gewesen war! Zwei Kleinkinder in Windeln, ungezählte schlaflose Nächte, wenig Liebe und Unterstützung durch meinen Mann, der sich nicht in seine Rolle als fürsorglicher Vater und Ehemann fügen konnte. Ich blickte zurück auf den täglichen Kampf mit dem Autismus des Jüngsten. Immer in „Hab-Acht-Stellung“ sein: Wann kommt der nächste Wutanfall? Wann macht er wieder die Hose voll? Wann wird er das nächste Kind auf dem Spielplatz beißen? Wann wird er wieder Tapeten von den Wänden reißen? Wann kommt der Moment, in dem er aus friedlichem Spiel heraus seinem Bruder den Kopf blutig schlägt?
Mein Ich der Vergangenheit sprach laut und hektisch: Ich muss es verhindern! Ich muss aufpassen, das alles darf nicht geschehen, ich als Mutter muss es verhindern, muss beschützen, muss wachsam sein, darf nicht schlafen, darf nicht weggucken, darf nicht versagen. Alle sollen doch glücklich sein. Ich darf ihn nachts nicht schreien lassen. Ich darf nicht die Arzttermine versäumen. Ich muss mit ihm sechs Mal am Tag die Krankengymnastik für die Klumpfüße machen, auch wenn er dabei vor Schmerzen schreit – ich MUSS, es ist meine Mutterpflicht! Ich darf keinen Spaß haben ohne meine Familie. Ich habe Angst. Wir zerbrechen. Ich darf nicht zulassen, dass mein Mann noch unzufriedener wird. Ich darf die Wohnung nicht verkommen lassen. Ich darf mich nicht beklagen, ich muss doch eine glückliche Mutter sein, ich wollte doch meine Kinder bekommen, ich wollte doch heiraten und Mutter sein. Ich darf nicht dick werden. Aber ich bin doch so hungrig und müde. Ich muss kämpfen. Mein Sohn muss doch ein normales Leben haben dürfen. Ich liebe ihn so sehr! Er hat doch auch so viele gute Seiten! Ich muss für ihn Heilung suchen. Ich muss meinen Großen noch mehr lieb haben und schützen. Ich muss mit den Ärzten und Ämtern streiten, sie wollen den Kleinen abschieben ins Pflegeheim…ich muss, ich muss, ich muss…!
Während mein Ich der Vergangenheit verzweifelt sprach, wurde es immer blasser und schwächer, bis es verstummte und nicht mehr sichtbar war, und ich erkannte nun klar die Parallele
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