Mischpoche
Beförderung drinnen, nach so einer Heldentat.«
Bronstein lächelte säuerlich. »Die einzige Beförderung, die da drinnen ist, ist die mit der Stadtbahn.«
»Na besser als die mit der Nordbahn. Die kriegen die feinen Herren. Gratis. Wien-Stein an der Donau, einfache Fahrt.«
»Eh wahr.« Bronsteins Lächeln wurde heiterer.
»Herr Ober, noch einen Pharisäer.«
1924: In der Sache Wondratschek
Als Bronstein das Büro betrat, fand er Pokorny in missmutiger Stimmung vor. Der alte Mann riss kleine Streifen von einem Aktenblatt ab, zerknüllte sie sodann und versuchte, mit den so geformten Kügelchen den geflochtenen Papierkorb zu treffen. Ohne Mühe erkannte Bronstein, dass sein Mitarbeiter kein guter Schütze war, denn in der Ecke konnte er eine stattliche Zahl von Papierresten sehen, die sich um den Abfallbehälter gruppierten. Nun kannte Bronstein den Pokorny seit vielen Jahren und wusste daher, dass dieser ein jovialer Kerl war, dem so leicht nichts die Laune verdarb. Also musste, so schloss Bronstein messerscharf, schon etwas Besonderes vorgefallen sein, dass Pokorny gar so grantig war.
»Ja, was ist denn mit dir los, ha?«, begann Bronstein daher.
»Ach was«, maulte Pokorny nur und machte dabei eine wegwerfende Handbewegung.
Bronstein war sich darüber im Klaren, dass er an dieser Stelle genau zwei Möglichkeiten hatte. Zuckte er nun mit den Schultern, setzte sich an seinen Schreibtisch und begann sein Tagewerk, dann war die ganze Geschichte ziemlich sicher abgeschlossen, noch bevor sie begonnen hatte. Er würde sich zwar innerlich weiterhin fragen, was denn den Pokorny so verdross, doch andererseits würde er seine Ruhe haben und sich um seine Arbeit kümmern können. Ermunterte er aber andererseits Pokorny dazu, sich zu erklären, dann wäre zwangsläufig ein Vortrag von der Länge des Alten Testaments die unabänderliche Folge. Bronstein würde Pokornys Ausführungen erst zu Beginn der Mittagspause stoppen können, was ihm bestenfalls eine Atempause einbrächte, da Pokorny ohne Frage auch beim Essen weiter in aller Ausführlichkeit berichten würde, was sein Gemüt denn so verdunkelt hatte.
Befriedigung der eigenen Neugier oder ruhiger Vormittag, das waren die Optionen, zwischen denen er zu wählen hatte. Bronstein seufzte. Natürlich obsiegte abermals seine Neugier.
»Was was?«
»Der Wondratschek!«
Obwohl Pokorny üblicherweise redete wie ein Wasserfall, sodass jede Bassena-Tratschen gegen ihn wie ein Kartäusermönch wirkte, liebte der alte Pokorny es, sich zu Beginn einer Erzählung jedes Wort aus der Nase ziehen zu lassen, weil er in dem Wahn befangen war, damit steigere er das Interesse seines jeweiligen Publikums. Und natürlich wusste Pokorny, dass Bronstein der Name Wondratschek rein gar nichts sagen würde, er ergo nun zu der unausweichlichen Frage anheben musste, wer denn jetzt wieder der Wondratschek sei. Und genau dieser Satz würde Pokorny das Gefühl vermitteln, seinem Vorgesetzten ein weiteres Mal überlegen zu sein, was, so nebenbei bemerkt, ein Grundbedürfnis Pokornys war, der es wohl nur schwerlich verwand, unter jemandem dienen zu müssen, der gut 20 Jahre jünger war als er. Pokorny hatte durch diese Frage jedenfalls die Gelegenheit, mit einem gottergebenen Seufzer so zu tun, als sei es völlig unverständlich, dass irgendjemand in der Wiener Polizei wirklich noch nie vom Wondratschek gehört haben sollte, der doch, wie außer dem Fragesteller wohl jedermann wisse, der bedeutendste, grausamste, gevifteste – je nachdem, was gerade anlag – Verbrecher der ganzen großen Wienerstadt sei. Daran würde sich eine reichhaltig illustrierte Biografie des Ganoven anschließen, für die Bronstein, einen flüchtigen Blick auf die Amtsuhr werfend, grob zwei Stunden veranschlagte. Dann, und erst dann, würde Pokorny erstmals nach Luft schnappen, was dann Bronstein die Gelegenheit böte, danach zu fragen, was denn bitte schön der Mord an der Kaiserin Sisi, die Affäre Redl oder die Oktoberrevolution in Russland – je nachdem, in welche Richtung Pokornys Erzählung abschweifen würde – mit dem Wondratschek, vor allem aber mit Pokornys Laune zu tun habe. An dieser Stelle würde Pokornys Erzählung abrupt implodieren und irgendeine banale Auflösung anbieten, die es Bronstein endgültig bereuen lassen würde, der Neugier den Vorzug gegenüber der Ruhe gegeben zu haben.
Und doch konnte er nicht anders. Sein Wissensdurst ließ ihn mitspielen.
»Der Wondratschek? Wer ist jetzt bitte
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