Mischpoche
Anfang April zu erwarten ist, bei Passau über den Inn zu schubsen gedenkt.«
»Genau«, resümierte Schober, »das ist das Problem. Mein sehr verehrter Herr Nachfolger sucht nun ganz g’schwind nach einem Grund, wie man das verhindern könnt’. Narrische Volksverhetzer haben wir schon genug bei uns, da brauchen wir nicht auch noch einen Import aus dem Reich. Meine Herren, wir brauchen also eine Lösung, mit der wir den Bayern sagen können, dass sie sich ihren … Hitler … schön behalten sollen. Meine Herren, ich warte auf Ihre Vorschläge.«
Niemand meldete sich zu Wort. Alle schienen zu grübeln. Alle außer Bronstein. Der ging mit größter Selbstverständlichkeit davon aus, dass ihn diese Frage rein gar nichts anging. Er war ein denkbar kleines Rädchen in der großen Welt des österreichischen Sicherheitswesens, und da gab es wahrlich berufenere Geister als ihn, eine solche Frage zu klären. Außerdem verstand er die Fragestellung gar nicht. Ein Krakeeler mehr oder weniger, darauf konnte es doch gar nicht ankommen. Dieses Land hatte einen Lueger und einen Schönerer überlebt, da würde es mit einem aufgeblasenen Ex-Spitzel auch noch fertig werden. Der kannte hier doch ohnehin niemanden, von ein paar Sandlern vielleicht abgesehen, wie sollte dieser Hitler hier also politisch Fuß fassen? Die haben echt Sorgen, dachte sich Bronstein. Die sollten sich einmal die jüngste Kriminalstatistik ansehen! Seit vier Jahren hatte es nicht mehr so viele Eigentumsdelikte gegeben wie seit Beginn dieses Monats. Und die Polizei war machtlos, weil sie kläglich unterbesetzt war. Da hatte man 1919 einen ganzen Haufen von Gendarmen aus allen Teilen der ehemaligen Monarchie in Wien aufgenommen, die meist kein Wort Deutsch verstanden. Natürlich waren die im tagtäglichen Einsatz völlig unbrauchbar gewesen. Wie sollte sich auch irgendein ruthenischer Dorfgendarm, dessen einzige Aufgabe es Jahrzehnte lang gewesen war, eine Wirtshausschlägerei zu verhindern oder für zwei Bauern einen Streit um die Ackergrenze zu schlichten, im Moloch Großstadt zurechtfinden. Natürlich hatte man all diese Lacis und Bacis nicht in der Tagesarbeit eingesetzt, und so waren die Reihen der Wiener Polizei de facto sträflich ausgedünnt. Jeder Ganove konnte in dieser Stadt schalten und walten, wie es ihm beliebte, und die hohen Herren hier hatten keine anderen Sorgen als einen verwirrten Kriegsveteranen, der sich zu Höherem berufen glaubte. Da war ja Pokornys Wondratschek noch eine größere Gefahr für Wien.
Schober riss Bronstein aus seinen Gedanken. »Meine Herren, ich kann nur noch einmal den Ernst der Lage unterstreichen. Wir müssen der Regierung beweisen, dass wir, wenn es darauf ankommt, jederzeit blitzschnell reagieren können. Es darf nicht sein, dass sich der Sicherheitsapparat dieses Landes blamiert – wir sind ja schließlich nicht die Politik, gell!« Dabei bemühte sich der Präsident um ein Lachen, in das die übrigen Beamten pflichtschuldigst einfielen. »Und ausnahmsweise«, setzte Schober dann fort, »verstehe ich die Politik diesmal sogar. Es kann nicht sein, dass uns die Brüder im Reich einfach irgendetwas aufhalsen wollen, nur weil es ihnen gerade so passt. Natürlich sind wir alle Deutsche …« Schober hielt einen Moment inne, und aus ihm unerfindlichen Gründen fühlte Bronstein auf einmal den Blick des Ex-Kanzlers auf sich ruhen. »Aber die Herren in Berlin«, griff Schober den Gesprächsfaden wieder auf, »von München ganz zu schweigen, dürfen nicht vergessen, dass Wien jahrhundertelang die Hauptstadt des Reiches war. Wir machen die Politik, nicht die. Und daher nehmen wir diesen … Hitler dann, wenn wir ihn wollen, und nicht auf Zuruf von draußen. Also, meine Herren, überlegen Sie sich was.«
»Ist der nicht schon naturalisiert?«, wagte sich ein Vertreter des Justizministeriums aus der Deckung. »Der lebt immerhin schon seit über zehn Jahren da drüben.«
»Das wäre er nur«, sprang Berger in die Bresche, »wenn er um die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft angesucht hätte, und das hat er offensichtlich nicht. Und da ihm also die deutsche Staatsbürgerschaft nicht verliehen wurde, hat er zwangsläufig noch die österreichische. So weit ist die Argumentation der Münchener Kollegen leider stimmig.«
»Ja, warum sperren die den nicht einfach ein und aus? Es ist doch egal, wo der sitzt.« Ein Sektionschef des Innenministeriums wollte offenbar auch einen Wortbeitrag leisten.
»Das ist ja gerade
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