Miss Daisy Und Der Tote Auf Dem Wasser
lichen Schlägen. Das Ufer glitt an ihnen vorüber, vor ihnen lag Temple Island.
»Wir werden links an der Insel vorüberziehen«, sagte Cherry. »Das ist zwar gegen die Verkehrsregeln, aber wir wer- den wohl kaum jemandem begegnen. Die Strömung ist da nicht so stark wie auf der anderen Seite. Auf das Frühstück später freue ich mich jetzt schon.«
»Bei Ihnen wirkt das so einfach«, sagte Daisy. »Ich würde es gerne einmal mit dem Paddeln – Rudern – versuchen, auf dem Rückweg, wenn wir mit der Strömung schwimmen.«
»Sind Sie schon einmal gerudert?«
»Irgendwann vor dem Großen Krieg. Wir haben als Kinder in Upton-upon-Severn oder in Severn-Stoke ein Dory gemie- tet, und Gervaise und sein Freund Phillip haben mich rudern lassen, weil sie ja fischen mußten.«
Cherry und Alec lachten. »Primstens«, sagte Cherry zu Daisy, »ich bin durchaus bereit, mein Leben in Ihre Hände zu geben. Bitte noch ein bißchen näher an die Insel steuern, Flet- cher, denn wir rudern schließlich in der falschen Richtung. Außerdem läßt es sich da leichter rudern. An der Spitze der Insel wenden wir dann.«
Sie kamen an die Startlinie der Regatta. Die Pontons waren bereits ans Ufer geschoben worden, dem Bootsverkehr aus dem Weg, der bald schon heimwärts fließen würde. So früh war noch niemand unterwegs. Die einzigen Geräusche waren das leise Klatschen des Wassers an der Bootswand, das Knar- ren der Ruder in den Dollen, das Zwitschern und Tirilieren der Vögel in den Bäumen der Insel.
Daisy schaute, ob sie einen Blick auf den Tempel erhaschen könnte. Doch ehe er in ihr Blickfeld kam, hörte sie einen Auf- schrei. Sekunden später zerriß ein Schuß die Ruhe.
Einen Augenblick fühlte Daisy sich zum Rennen vom Vor- tag zurückversetzt, als wäre das ein Startschuß. Doch dann folgte ein weiterer Schuß, gefolgt von einem lauten Platschen.
»Schaut nur! Da drüben!« rief Daisy aus und zeigte auf ein Objekt, das oben an der Inselspitze von der Strömung in die Mitte des Flusses gerissen wurde. Etwas Weinrotes. War das das Ambrose-Weinrot? »Du meine Güte! Das ist ein Mensch!«
Cherry hatte sich bereits umgewandt, um nachzuschauen. Jetzt holte er die Ruder ins Boot, stand auf und sprang kopf- über ins Wasser.
Das Skiff schwankte gefährlich. Es bewegte sich zwar im- mer noch weiter, von seinem letzten Schlag getragen, doch je- den Moment würde es mit der Strömung zurückgleiten. Vor- sichtig und dennoch zügig kroch Daisy auf allen vieren nach vorn auf die Ruderbank. Im Sitzen wandte sie sich um und sah Alec, der bereits seine Jacke ausgezogen hatte und sich über die Rückseite der Bank im Heck beugte, um das Steuer aus seiner Verankerung zu ziehen.
»Daisy, schaffst du das?« fragte er. »Cheringham kriegt das alleine nicht hin.«
»Ich komm schon klar.« Sie holte mit den Rudern aus, froh, daß Cherry sie in den Dollen gelassen hatte.
Alec ließ sich über den Rand gleiten, wodurch das Boot er- neut ins Schwanken geriet. Daisy sah, wie er mit entschlosse- nen Bewegungen hinter Cherry herschwamm, doch dann er- forderte das Rudern ihre gesamte Aufmerksamkeit.
Irgendwie schaffte sie es, Luftschläge zu vermeiden, ob- wohl ihre ersten beiden Züge äußerst ungeschickt ausgefallen waren. Der Rhythmus kehrte schnell zurück – es war wie beim Fahrradfahren: wer es einmal gelernt hatte, verlernte es nie. Das Steuern hingegen war eine ganz andere Sache: Sie schaute in die falsche Richtung. Gervaise war nicht da, um ihr zuzurufen, daß sie mit dem rechten Ruder stärker ziehen sollte, und auch Phillip nicht, um sie vom Ufer abzustoßen, wenn sie zu nah daran geriet.
Und das war schon sehr dicht. Ihr linkes Ruder strich durch die herabhängenden Zweige einer Trauerweide. Daisy korrigierte rasch ihren Kurs und merkte erleichtert, daß sie in dem relativ stillen Wasser in direkter Nähe der Insel gut wei- terkam, auch wenn es gegen den Strom ging.
Nur wohin?
Dann fiel ihr der Landesteg direkt vor dem Tempel ein. Wenn sie nur ein bißchen hinter den käme, würde sie die Strö- mung wieder hinuntertreiben. Es wäre jedenfalls einfacher, dort ans Ufer zu gelangen, als unter Bäumen und Büschen. Nur war das genau der Ort, an dem geschossen worden war. Stand jetzt dort jemand mit einer Pistole? Lauschend, war- tend?
Daisy ruhte sich einen Augenblick aus, die Arme auf die Ruder gestützt. Die Vögel schwiegen nach den Schüssen im- mer noch. Sie zwang sich, nicht nach Cherry und Alec zu se- hen, sondern sich auf das Zuhören zu
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