Miss Emergency
deswegen dermaÃen Zucker geben?! Ich bin immer noch sauer auf ihn, die dämliche Marie-Luise und Dr. Ross, die solche Albernheiten in der Visite nicht mit einem Wort gebremst hat. Wenigstens Isa ist auf meiner Seite und hat Verständnis, dass ich mich verhöhnt fühle. Und als sie mir jetzt das letzte Stück Schokolade rüberschiebt, kann ich endlich ein bisschen drüberstehen. Aber mein Lieblingspatient wird dieser Typ garantiert nicht.
Isa hat bereits eine Lieblingspatientin: ein junges Mädchen, das mit einer Pankreasruptur auf unserer Station liegt. Diesen Riss der Bauchspeicheldrüse hat sie sich bei einem Reitunfall zugezogen; trotzdem erzählt sie Isa jeden Tag, wie sehr sie ihr Pferd vermisst und sich darauf freut, wieder reiten zu dürfen. Ich bin erstaunt â wann hat Isa Zeit, mit den Patienten zu plaudern? â und nehme mir fest vor, mir morgen auch mal Zeit für MEINE liebste Patientin zu nehmen, statt immer nur mit meinem Fahrradunfall-Patienten zu kämpfen. Denn die alte Frau Klein scheint ebenfalls ein wenig einsam zu sein, auch wenn sie es nicht auf die aufdringliche Manuel-Ritter-Art kundtut. Hat sie überhaupt schon mal Besuch bekommen, seit ich sie aufgenommen habe? Ich muss wirklich aufmerksamer werden â¦
Es ist richtig schön, mit Isa zu quatschen; wir lagern auf ihrem Bett und futtern auch noch die Chipsreste auf. Isas Zimmer ist urgemütlich. Auf dem Schreibtisch stapeln sich zwar so viele Fachbücher, dass ich sofort ein schlechtes Gewissen bekomme â aber in den Regalen ringsum findet sich auch meterweise schöne Literatur und ich entdecke viele meiner eigenen Lieblingsbücher. Ich bestaune Isas wunderschöne Sesselbezüge, die farblich genau zum flauschigen Teppich passen â und erst als ich zweimal nachgefragt habe, erklärt Isa bescheiden, sie habe sie selbst genäht. Ich bin sprachlos vor Bewunderung, mein erster und einziger ehrgeiziger Ãbergriff auf Mamas Nähmaschine endete mit einem solchen Garnsalat, dass ich der guten Maschine einen teuren Werkstattaufenthalt finanzieren musste â¦
Gerade als wir auch die letzten Sushi-Teile von gestern auf dasBett geschleppt und uns völlig der gemütlichen Plauderstimmung ergeben haben, klingelt es. Vor der Tür steht Tom, der nette, schlaksige Soziologiestudent und abgelegte Ex von Jenny.
Wir erklären Tom, dass Jenny ausgegangen ist, und ich will die Tür schon wieder schlieÃen â als er schüchtern lächelt und sagt, er komme nicht, um Jenny zu besuchen, sondern um die Waschmaschine anzuschlieÃen. Jenny hat ihm gesagt, dass sie ausgeht, aber dass WIR zu Hause sind und ihm zeigen, was zu tun ist.
Isa und ich sind sprachlos. Ist das Masochismus? Oder ist Tom einfach unheimlich nett? Wir genieren uns beide, als er patent ins Bad spaziert, seine Werkzeugtasche auspackt und erklärt, dass er das Gerät schon gestern angeschlossen hätte, wenn nicht dieses unverzichtbare Zwischenstück gefehlt hätte, das er heute erst im Baumarkt besorgen musste. Isa und ich wechseln verlegene Blicke, doch Tom kniet schon vor den Badrohren und breitet sein Werkzeug auf dem FuÃboden aus.
Geflüsterte Beratung im Flur. »Das kann man nicht annehmen!«, findet Isa. Aber Tom ist ja schon mitten in der Arbeit ⦠Und irgendwann muss die Maschine doch angeschlossen werden. Wir beschlieÃen, uns nett und dankbar zu zeigen und Tom einfach machen zu lassen. Wenn ER es okay findet, dass Jenny ihn zum Arbeitseinsatz bestellt, ohne selbst anwesend zu sein, dann sollten WIR ihn vielleicht nicht auf die Idee bringen, dass das eigentlich etwas unverschämt ist!
Wir bemühen uns, die Peinlichkeit zu überspielen, leisten Tom im Bad Gesellschaft und unterhalten ihn, so gut wir können. Wir sind beide etwas verkrampft, denn wir haben das Gefühl, auch was arbeiten zu müssen, während er mit dem uralten Anschluss kämpft. Weil es im Bad aber eigentlich nichts zu tun gibt, falten wir Handtücher und kommen uns albern vor. Tom scheint sich aus der seltsamen Situation gar nichts zu machen, er redet locker über sein Studium und fragt uns nach dem PJ aus. Und Isa, die eigentlich so Schüchterne, plaudert zwanglos über Tübingen und ihr Zuhause. Sie hat sich für das PJ in Berlin beworben, um endlich bei ihren Eltern auszuziehen. Doch schongestern hat sie das erste Mal Angst vor der eigenen Courage bekommen
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