Miss Emergency
schönen Vormittag gemacht. Vorher aber hat sie das Skelett des Biologieunterrichts so über die Tür gehängt, dass es den Schülern, als diesie endlich befreien wollten, mitten in die Gesichter sprang. Frau Klein lacht. Sie hat ihre Schüler fast alle gerngehabt, 40 Jahre lang. Eigene Kinder hat sie nicht. Jetzt lebt sie allein mit zwei Katzen.
Irgendwann schaut Dr. Thalheim zu uns herein. Er lächelt, als er sagt, dass Frau Klein jetzt schlafen sollte. Erschrocken schaue ich zur Uhr, es ist fast neun. Ich verabschiede mich eilig. Meine Freundinnen müssen ja denken, ich bin verloren gegangen! Auf dem Klinikvorplatz überholt mich Dr. Thalheim und wünscht mir einen schönen Abend. Ohne den Kittel sieht er noch besser aus, seine dunkelgrüne Sportjacke passt perfekt zu seinen Haaren. Er lächelt mir zu, als er in seinen blitzenden VW steigt â und einen winzigen Moment erlaube ich mir den Gedanken, er würde mich nach Hause fahren. Frag! Frag mich, wo ich hinmuss! Es ist bestimmt kein groÃer Umweg!
Aber er fragt nicht, winkt nur kurz und braust davon. Na gut, Lena, du wirst die S-Bahn schon finden. Während ich ihm nachsehe, werde ich fast von einem Fahrradkurier über den Haufen gefahren.
»Keene Augen im Kopf?«, prollt der Radraser mich an. Ich lächle. Komisch. An Manuel habe ich den ganzen Tag nicht gedacht.
Auf dem S-Bahnhof mustert mich eine junge Frau eingehend von Kopf bis FuÃ. Stimmt was nicht? Ich schaue unauffällig prüfend an mir herunter, als sie ihren Begleiter angrinst und sagt: »Look, Joe, Berlin girls do wear sneakers.«
Ha! Ob sie meine uralten Turnschuhe gerade geadelt oder verspottet hat, ist mir ganz egal. Was in meinen Ohren klingt, ist »Berlin girls«. Ich bin noch keine Woche in der Stadt. Kann es sein, dass ich »es« wirklich schon habe? Ja, ich weiÃ. Ich fahre nach einem langen Kliniktag nach Hause â natürlich sehe ich nicht wie eine Touristin aus. Ich wohne hier. Ich arbeite hier. Aber diese Bezeichnung ist irgendwie noch was anderes. »Berlin girls« sind Mädchen wie Jenny und ihre coolen Freundinnen. Und jetzt ich. Ich fühle mich so geschmeichelt, dass ich wohl einenMoment zu lange hinschaue. Denn die Frau lächelt mich plötzlich an und fragt nach dem Weg zu »the wall«. Hm. Mein Englisch ist theoretisch perfekt â bis es spontan gefragt ist. Schlimmer als mein Gestotter ist aber die Tatsache, dass ich den Weg nicht mal im Deutschen erklären könnte. Ich weià ihn schlicht nicht. Tja, Lena, jetzt heiÃt es dazu stehen. Du bist eben »Lübeck girl«. Ich hole Luft, um mir und der jungen Lady eine schöne Illusion zu zerstören. Und dann zeige ich geradeaus und links und sage »You canât miss it«. Die Frau bedankt sich, die beiden schlendern davon. Und ich steige feige in die nächste Bahn, obwohl es gar nicht meine Linie ist. Ich konnte es einfach nicht. »Berlin girl« kostet das Paar vielleicht einen schönen Abend. Aber SO schön ist es an der Mauer nun auch nicht.
Zu Hause hat Isa ihren Frust in Produktivität verwandelt; akribisch arbeitet sie alle Chefarzt-Fragen nach. Jenny ist bei ihrem DJ und in der Küche herrscht Chaos. Wenigstens hat jemand die Arbeitsplatte neben der Spüle angeschraubt. Ich erbarme mich, spüle das Geschirr und schmiere Isa ein Brot. Als sie mich bittet, sie abzufragen, mache ich den Chefarztfinger nach und weihe sie in Frau Kleins Geheimnisse der Psychologie von Fragetechniken ein. Endlich lächelt Isa wieder. Um sie noch glücklicher zu stimmen, lobe ich überschwänglich ihren handwerklichen Einsatz um unsere Arbeitsplatte. Doch das war nicht Isa. Das war Tom. Die Frage, warum er heute schon wieder hier war und ob man Jenny mal seinetwegen den Kopf waschen müsste, vertage ich. Ich muss dringend ins Bett. Wer weiÃ, was morgen wieder für Herausforderungen auf uns warten.
M ein Opa hatte recht: Im Leben kriegt man nichts geschenkt. Es war nicht ganz einfach, Isa heute Morgen davon zu überzeugen, wieder kämpferisch und mit neuem Mut an die Arbeit zu gehen. Doch auch Jenny und mir wurde heute einiges abverlangt.
Einer meiner ersten Wege führte ins Zimmer 16. Manuel erlaubte sich ein paar Sprüche zum Thema Einsamkeit und was Frauen dagegen tun können. Vor allem Frauen, die â muss ich es extra erwähnen? â gar keine Ãrztinnen sind und sich
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