Miss Emergency
deswegen auch nicht so aufspielen sollten und lieber mal mit einem einsamen Patienten Schach spielen könnten. Pah, als ob der Schach spielen könnte! Aber ich bin ehrlich gesagt auch nicht die Beste im Schach und würde es deshalb lieber nicht darauf ankommen lassen. Moment, was rede ich?! Ich BIN Ãrztin! Ich hab keine Zeit, Schach zu spielen! Dieser Blödmann bringt mich völlig durcheinander.
»Wie lange muss ich eigentlich noch bleiben?«, fragt Manuel. Ich schätze, höchstens ein paar Tage. Schädelbruch oder Gehirnblutungen wurden ausgeschlossen. Wenn seine Verwirrung nicht wieder zunimmt und keine Kopfschmerzen, Ãbelkeit oder Schwindel mehr auftreten, sollte er bald entlassen werden. Manuel wird still, nickt, sieht zur Decke. Was denn?! Tut es dir leid, dass du mich bald nicht mehr schikanieren kannst?
Um ihn wieder aufzumuntern, schlage ich vor, dass wir uns ja mal drauÃen treffen können. Zum Fernsehen. »Dann komme ichauch ohne Kittel, damit du dich nicht so eingeschüchtert fühlen musst.«
Manuel schweigt. Mann, das war eine Steilvorlage â sag doch was Dummes! Nichts kommt. Offenbar habe ich mein Aufmunterungstalent heute Morgen bei Isa völlig ausgeschöpft.
In der Mittagspause ist die Stimmung mies, Jenny rauscht an unseren Tisch, vernichtet hastig einen Berg Pommes und verschwindet. Klar, sie muss die Laborergebnisse abholen! Dass sie das nun regelmäÃig die Mittagspause kostet, bringt sie extrem auf die Palme. Doch vor den Augen aller Ãrzte wagt sie es nicht noch einmal, gegen Kommandoschwester Klara aufzubegehren. Isa sitzt still am Tisch und blättert in einem Lehrbuch. Was für ein vergnügter Haufen! Nur der Blauhaarige am Kantinentresen ist ein Lichtblick. Nachdem er mir einen grünen Tee verordnet hat, um meine offensichtlich gedrückte Laune zu beflügeln, kommen wir ins Plaudern. Er heiÃt Ruben, stammt aus den Niederlanden und ist gelernter Koch. Wenn ich es richtig sehe, trägt er heute unter der Schürze einen Rock. Schwul? Na, mir soll es recht sein, ich finde ihn groÃartig.
»Vorsicht«, sagt Ruben, »ich kann sehen, was du denkst.«
Was?! Ich erstarre.
Er grinst. »Ob ich schwul bin.«
Ich schüttle den Kopf. Mann, Lena, gehtâs noch peinlicher? Offenbar spricht mein ertapptes Gesicht Bände und mein energisch leugnendes Kopfschütteln hat keinen Erfolg.
»Erstens«, sagt Ruben und beugt sich über den Tresen, »sind so triviale Einschätzungen eine Beleidigung für meinen Sexualintellekt.« (Mein Lieber, ich wusste gar nicht, dass es so was gibt.) »Und zweitens«, fährt er fort, »solltest du mich nie anlügen. Ich kann Gedanken lesen, besonders, wenn es um mich geht.«
Ich lache â aus Verlegenheit â und bin dankbar, dass er so grinst.
»Wirklich. Ich höre die Stimmen aus allen Köpfen. Die Leute sagen zwar selten, was sie denken, aber ihre Gesichter verraten es doch immer, findest du nicht?« Er wirkt sehr sophisticated und gefällt sich wohl darin.
Ich weià noch nicht, WIE SEHR ich mal wieder die Blamierte bin, aber ich beschlieÃe, auch Ruben mit Humor zu nehmen.
»Nun genier dich mal nicht«, lächelt er und schiebt mir unauffällig einen Schokoriegel über den Tresen. »Aber fang schleunigst an, auf die Zwischentöne zu achten, wenn du es hier zu was bringen willst.« Und dann dreht er sich abrupt um und brüllt in die Cafeteria: »Es ist noch Suppe da!«
Vor Schreck kleckert Schwester Klara ihr fettarmes Salatdressing über den Kittel. Danke, Ruben. Ich beiÃe in den Schokoriegel, als hätte ich seit Wochen nichts gegessen. Den hatte ich nötig!
Kauend schlendere ich über den Flur. So viel zum Thema Sensibilität, Lena. Heute bitte keine Peinlichkeiten mehr. Wenn bis zur Biegung eine gerade Zahl weiÃer Bodenfliesen kommt, habe ich es für heute überstanden. 2, 4, 10, 12. Na bitte. Die halbe Fliese an der Ecke zähle ich natürlich nicht mit. Ich habe mir einen erfolgreicheren Tagesausklang ja auch wirklich verdient. Die halbe überzählige Bodenfliese liegt vor Manuels Tür. Und irgendwie bringt mich die Kombination aus »Ignoriere die letzte Fliese« und »Achte auf die Zwischentöne« dazu, stehen zu bleiben. Und Manuels Tür zu öffnen. Und dann sehe ich ihn. Ins Waschbecken spucken.
Zum ersten Mal bin ich nicht die Ãrztin, die um
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