Miss Emergency
einseitigen Argumenten, dass man manchmal etwas fürs Auge braucht und wir ja auch ein bisschen zum Spaà hier sind. Isa setzt stattdessen auf die Herausforderung. Manuel ist nicht einfach. Es macht sicher Eindruck, wenn ich mich dieser Schwierigkeit stelle. Frau Klein ist eine Patientin, wie sie sich alle wünschen. Manuel ist ein Kaliber für Fortgeschrittene.
»Vielleicht ist es ein Test vom Oberarzt?«
Gut, in Isas Leben ist alles ein Test und die Angst, dass etwas einer sein könnte, überschattet fast jede ihrer Entscheidungen. Doch was, wenn sie recht hat? Quatsch, Lena. Aber das letzte Argument hast noch du gar nicht gesagt: Wenn du dich für Frau Klein entscheidest, wirst du Manuel kaum mehr sehen. Er ist vielleicht noch drei Tage, höchstens eine Woche bei uns. Danach kann ich mich immer noch neuen Herausforderungen stellen ⦠Nur, warum ist es diesmal so schwer, die Empfehlung meiner Freundinnen anzunehmen â wenn sie doch alles so hinbiegen, wie ich es mir wünsche? Eben. Weil ich das Gefühl habe, dass es hingebogen ist. Dass es keine wirkliche Arztentscheidung ist, die ich hier zu treffen im Begriff bin. Sondern eine Mädchenentscheidung. Irgendwie kommt mir das falsch vor. Na gut, ich habe ja noch eine ganze Nacht Zeit.
Am Morgen habe ich nichts entschieden und immer noch Skrupel. Darf man den attraktiven, provokanten Patienten wählen? Oder schreiben die Bescheidenheit und die Konzentration auf das Wesentliche nicht vor, dass man die ältere Dame nimmt? Ich bin schon auf dem S-Bahnhof an der Klinik. Fünf Minuten bis zum Krankenhaus, zehn bis zu Thalheims Büro. In meiner Not greife ich endlich zum guten alten Orakel. Menschenmassen drängen aus der S-Bahn, schieben sich zur Rolltreppe, dem unvermeidlichen Engpass. Wenn ich es schaffe, die Erste am unteren Ende der Rolltreppe zu sein, ist es okay, Manuel zu nehmen.
Ich stürze los. Ich drängle, schiebe, nehme mehrere Stufen auf einmal. Wollen wir doch mal sehen, was das Schicksal meint! Niemand hat gesagt, dass es leicht ist; so sollen Orakel ja sein. Hinter mir stürzt ein Aktenkoffer, jemand schimpft. Tut mir leid, Leute, das Schicksal und ich müssen hier eine wichtige Sache entscheiden. Ein japanischer Anzugträger spurtet nach einem Zug, für den in dieser Sekunde am unteren Bahnhof zum Einsteigen aufgefordert wird. Als ich mich schon sicher als Erste am Treppenende wähne, springt er ÃBER meinen Arm und erreicht das Rolltreppenende einen Sekundenbruchteil vor mir. Ich werde Zweite. Ich sehe den Japaner in den Zug hechten; als sich die Waggontür schlieÃt, macht er eine entschuldigende Geste in meine Richtung â ohne einen einzigen Hauch Restatem, aber erfüllt von tiefster Zufriedenheit.
Ging es ihm echt nur um den Zug? Oder worum ging es in SEINEM Orakel? Ich kann nur hoffen, dass er etwas wirklich Wichtiges von diesem Zug abhängig gemacht hat! Hätte er eine ungeliebte Frau wegen des Geldes geheiratet, wenn er den Zug verpasst hätte? So etwas könnte mich über MEIN verlorenes Orakel hinwegtrösten. Werde glücklich, kleiner Japaner, mit der armen, aber zauberhaften Frau, die deine Eltern ablehnen! Das Schicksal hat für dich entschieden, ich freu mich für dich. Gegen so etwas ist mein eigenes Orakel Kinderquatsch. Trotzdem. Die Enttäuschung überrollt mich. Ich wusste gar nicht, dass ich Manuel so gern wollte.
So, die nette Frau Klein wird sich freuen und der arrogante Manuel hat mir die Tage eh nur schwer gemacht. Im Positivdrehen warst du nie besser, Lena! Ich stehe noch immer vor der Treppe, an mir vorbei drängeln sich Frauen. Frauen in Kostümen, eine mit Kind, eine mit Rucksack ⦠Nicht NUR Frauen, aber doch hauptsächlich. Alle haben es eilig. Aber keine ist so gerannt wie ich. Moment ⦠DIE Erste bist du doch gewesen, Lena! Du hast nicht gesagt, der erste Fahrgast oder Mensch â DIE ERSTE. Das warst du. Du darfst Manuel nehmen. Du musst sogar! Mann, sind Entscheidungen bei allen Frauen so kompliziert?
E ndlich wieder alles im Griff! Ich fühle mich regelrecht erlöst, als ich an Dr. Thalheims Büro klopfe. Er öffnet und sieht hinreiÃend wirr aus heute Morgen. Ich schätze, er hat schlecht geschlafen; sein Haar ist verstrubbelt, sein Hemd zerknittert â es ist dasselbe wie gestern. Dr. Thalheim lächelt mich an.
»Sie müssen meine desolate Erscheinung
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