Miss Emergency
entschuldigen«, sagt er. »Ein Notfall. Ich bin noch nicht nach Hause gekommen. Sie wissen ja, wie das hier ist.«
Ich nicke, völlig verzaubert. Nein, Dr. Thalheim, ich weià nicht, wie das ist. Ich bin erst seit knapp zwei Wochen hier; ich habe bisher regelmäÃiger und reichlicher geschlafen als während meines ganzen Studiums. Aber dass du mich einbeziehst in deine Arztsorgen, als hätte ich hier seit Jahren aufopferungsvollen Nachtdienst geschoben, macht mich fast so glücklich, als hätte ich selbst in einer Nacht-OP ein Menschenleben gerettet.
Für den Bruchteil einer Sekunde blitzt vor meinem inneren Auge ein betörendes Bild auf: Dr. Thalheim und ich, die einsame Station kurz vor Morgengrauen. Wir sitzen erschöpft am Bett des Patienten, dessen Leben noch vor einer Stunde verloren schien. Rücksichtslos sind wir bis über die Grenzen unserer Kräfte hinausgegangen, in letzter Sekunde haben wir ihn gerettet. Jetzt wachen wir am Bett des Schlafenden und reichen uns die Hände, in stummem Einverständnis und voll gegenseitiger Hochachtung â während hinter uns die Sonne aufgeht.
Mann, Lena, reià dich doch zusammen! Hattest du gestern nicht noch Angst, dass der provokante Manuel dir zu viel bedeutet? Und jetzt verhedderst du dich in Tagträumen von deinem Oberarzt?! Aber ich kann es nicht leugnen, so zerknittert sieht er einfach bestechend aus. Verantwortungsvoll, wortkarg, ein Indiana Jones im weiÃen Kittel. Dr. Thalheim stoppt endlich mein Hirnkarussell.
»Ich brauche dringend einen Kaffee. Möchten Sie vielleicht auch eine Tasse, während wir uns unterhalten?«
»Gern«, sage ich und verkneife mir: Das haben wir beide uns nach dieser Heldentat auch verdient.
Ich nehme â nur ein ganz klein bisschen nervös â im Sessel vor Dr. Thalheims Schreibtisch Platz und sehe mich zum ersten Mal aufmerksam in seinem Büro um: Es ist pragmatisch eingerichtet, der groÃe Schreibtisch übervoll mit Akten und Büchern. Aber das obligatorische Foto neben dem Computer fehlt. Ist er zu nüchtern, um sich hier Frau- und Kinderfotos als Motivation aufzubauen? Oder hat er etwa keine? Wartet er noch auf eine verwandte Seele? (Natürlich eine so attraktive, dass ihr Schreibtisch-Abbild Ermunterungspotenzial für zehn durchwachte Arbeitsnächte bietet!) Leider spricht die übrige Büroausstattung für die erste Theorie â nirgendwo finden sich Bilder oder andere unnötige Ausschmückungen. An den Wänden nur Regale, noch mehr Bücher und die typischen Verordnungen und Auszeichnungen. Dann entdecke ich es doch. Da steht ein altmodischer Rahmen fast versteckt hinter dem Bücherstapel. Schade. Tja, Lena, da verpufft dein anbetungswürdiges Bild vom einsamen Wolf, der nur für die Hilfsbedürftigen lebt. Ich beuge mich vor, um einen Blick auf die sicher hinreiÃende Frau zu werfen, die der kleine Rahmen einfasst ⦠da kommt Dr. Thalheim zurück und stellt mir einen silbernen Wärmebecher mit Kaffee hin.
»Ich selbst trinke ihn schwarz. Aber wenn Sie Milch und Zucker möchten, werden Sie im Schwesternzimmer sicher fündig.«
Ich verneine dankend und behaupte, schwarzer Kaffee sei das einzig Wahre. Und spätestens jetzt sollten alle Alarmglocken feuernotfallmäÃigschrillen. Ich trinke NIE schwarzen Kaffee. Bis heute. Pass bloà auf, Lena! Eine Schwärmerei für den Oberarzt solltest du dir wirklich nicht auch noch ans Bein binden! Quatsch â das ist nur der Stolz, weil Dr. Thalheim dich heute so gar nicht als Untergebene, als ahnungslose Anfängerin behandelt; weil er seine Sorgen mit dir teilt und dir ungeniert mit seiner zerstrubbelten Frisur gegenübersitzt und seinen Kaffee mit dir teilt, als wärst du eine erfahrene vertraute Kollegin. Nur Stolz. Mehr nicht.
Dr. Thalheim schenkt sich den Deckelbecher der Thermoskanne voll. Offenbar ist das seine eigene Wärmetasse, die er mir hingestellt hat. Ich fühle mich â ist das möglich? â NOCH geschmeichelter. Die blecherne Warmhalte-Tasse ist verbeult, ein Lange-Autofahrten-Lagerfeuer-Indiana-Jones-Thermosbecher. Er passt perfekt in meinen Nächtliche-gemeinsame-Lebensrettung-Tagtraum. Es tut mir leid: So souverän ich mich auch gebe, ich BIN die kleine unerfahrene Anfängerin. Und angerührt und beeindruckt â von einem ärztlichen Thermosbecher.
Dr. Thalheim lehnt sich
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