Miss Emergency
Zornesausbruch weniger Eindruck hinterlassen. Perplex entgegnet sie, wieder fast gutwillig, dass sie nur beides schaffen könne, wenn sie ganz auf ihre Mittagspause verzichte. Dr. Ross zuckt mit den Achseln und wendet sich ab. »Dann bringen Sie sich doch ein Brot mit.« Für die Dauer der Visite ist Jenny Luft für Dr. Ross. Sie selbst scheint auch wie betäubt von ihrem Ausbruch, folgsam und schweigend geht sie hinter der Gruppe her. Mann, meine komplizierten Freundinnen! Ich ahne schon: Das wird eine lange Nacht in unserer WG-Küche.
Die Visite steht unter keinem guten Stern. Isas Pferdemädchen geht es besser; sie strahlt Isa an und fragt nach der Visite, ob Isa ihre neuen Pferdefotos sehen will. Isa sagt herzlich zu, doch Dr. Ross hat einen schlechten Tag. Sie ermahnt Isa nörglerisch, während der Arbeitszeit keine privaten Patientenbesuche abzuhalten.Wie ungerecht, das ist doch kein Privatbesuch! Aber Isa nickt brav. Hätte ich heute nicht meinen »Misch dich nicht ein«-Tag (und Dr. Ross nicht gar so schlechte Laune!), würde ich vielleicht anmerken, dass Anteilnahme und das Eingehen auf den Patienten wesentlich für den Heilungsprozess sind â und jeder, der sein Medizinstudium in diesem Jahrhundert absolvierte, das auch gelernt hat. Fünf Minuten Pferdebilder angucken können ebenso wichtig sein wie die tägliche Dosis Vitamine. Aber ich ahne, dass sie dann sagt, dafür seien doch die Schwestern da ⦠und haben wir heute nicht genug gestritten? Die Freude des Pferdemädchens ist nach Dr. Rossâ Zurechtweisung jedenfalls verflogen â bis die gutherzige Isa ihr einen Besuch nach Feierabend verspricht. Dr. Ross kommentiert das nicht. Tja, Nörgeln liegt ihr heute mehr als Loben. DIE besucht nach Feierabend bestimmt keine Patienten â ich habe sie drei Abende nacheinander Punkt sechs im Laufschritt das Krankenhaus verlassen sehen. Die älteren PJler behaupten, Dr. Ross lasse mit dem Glockenschlag den Kittel fallen und Klinik Klinik sein. Die würde nie nach Dienstschluss Pferdebilder angucken, geschweige denn aufopferungsvoll wie Dr. Thalheim ihre Nächte hier verbringen â¦
Frau Klein ist heute sehr blass und beantwortet die Fragen nach ihrem Befinden wie ein schwacher kleiner Soldat mit knappen Sätzen. »Gut«, »Brustschmerzen«, »Keinen Appetit«. Ich bin erschrocken, Frau Klein wirkt plötzlich so alt. Winzig und kraftlos liegt sie in dem groÃen Bett â kein Vergleich mit der fröhlichen älteren Lady, mit der ich mich neulich unterhalten habe. Dr. Ross scheint nicht beunruhigt. Ãbertreibe ich? Oder hat Dr. Ross sich noch nicht so eingehend mit Frau Klein beschäftigt, dass ihr die Verschlechterung auffällt?
Nun werd mal nicht überheblich, Lena! Dr. Ross ist bei aller Pragmatik eine verantwortungsvolle Ãrztin. Wenn es Grund zur Sorge gäbe, würde sie handeln. Ich drücke Frau Kleins Hand, sie erwidert den Druck nur leicht.
»Kommen Sie zurecht?«, frage ich etwas hilflos. Man sagt nun mal nicht: »Na, Sie sehen aber heute mies aus.«
»Geht schon«, flüstert Frau Klein und bemüht sich um ein Lächeln. »⦠schlecht geschlafen. Ich krieg so schlecht Luft.«
Ich nicke. Ist ja klar bei dem Husten. »Das wird schon«, sage ich. Ein blöder, inhaltsloser Jedermanns-Trost. Frau Klein lächelt trotzdem dankbar.
»Können wir weiter?«, fragt Dr. Ross von der Tür.
Ich komme ja. Frau Klein müsste man auch nach Feierabend mal besuchen, denke ich. So viele Patienten, die einsam sind, die meist nur bei der Visite mit den Ãrzten sprechen. Klar, die Schwestern haben mehr Zeit. Aber auch nur theoretisch. Viel mehr als ein tröstendes Armklapsen schaffen sie an manchen Tagen auch nicht; da ist immer der nächste Patient, dem es noch schlechter geht ⦠Ich werde mir für all meine Patienten Zeit nehmen, schwöre ich mir, an ihren Betten sitzen, mir ihre Sorgen anhören. Mann, Lena, brems dich! Du weiÃt, das wirst du nicht schaffen. Nicht jahrelang. Vielleicht liegt es an dem verkorksten Tag, aber das könnte mich schon deprimieren â¦
Als wir endlich zu Manuel kommen, sind wir alle von der nervenzehrenden Visite ausgelaugt. Aber jetzt hält der Tag doch noch etwas Nettes für mich bereit: das Gesicht von Marie-Luise, als sie erfährt, dass Manuel MEIN Patient ist. Zwar sagt sie in ihrer
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