Miss Emergency
loszustürmen, fällt mir die Sache mit dem Club ein.
Als ich in der fünften Klasse war, gab es kein aufregenderes Schulgespräch als den Club. Alles, was den Club betraf, wurde streng geheim gehalten; man wusste nur, dass mindestens fünf Mädchen aus der Siebten dazugehörten und grandiose Abenteuer erlebten. Wir Uneingeweihten schnappten gierig nach jedem Brocken Information, der nach auÃen drang â ein geheimes Quartier, aufregende Ausflüge und mitternächtliche Feste. Vielleicht war es ein Dichterinnenclub, vielleicht eine Art Rollenspiel, wir haben es nie durchschaut. Aber JEDE wollte dazugehören. Zwei meiner Nachbarinnen am gymnasialen Mittagessens-Vierertisch waren Mitglieder: Alicia, die beste Sportlerin der Schule, und Anni, das Mathegenie. Ich schnappte fast über, als sie mich eines Tages musterten und ich munkeln hörte, der Club wolle eine Fünftklässlerin aufnehmen. ICH, ICH! Bitte,lass es mich sein! Die Aufnahme in den Club wäre die Erfüllung all meiner Kleinmädchenträume gewesen; ganz abgesehen davon, dass es mich vor der ganzen Mittelstufe geadelt hätte und ich so vielleicht Sandy Köhler von der Abi-Jahrbuch-Seite »Beliebteste Schülerin« verdrängt hätte. Ich zappelte zwei Tage, dann hielt ich es nicht mehr aus und fragte am Mittagstisch unauffällig bei Alicia und Anni nach. Nun ja, fünftklässler-unauffällig. Zwei Mittagessen lang fragte ich supersubtil zwischen den Zeilen, wann ich eintreten könnte. Dann hieà es im Schulklatsch, der Club wolle sich doch nicht mehr vergröÃern. Den Zettel fand ich eine Woche später beim Essendienst unter unserem Tisch. Mit lila Filzstift stand dort: Lena hat was mitgekriegt. Und darunter in Annis Schnörkelschrift: guter Charaktertest. Wir nehmen sie nur, wenn sie nicht fragt.
Ich hab nie erfahren, was sie in diesem Club gemacht haben. Weil ich so gerne dabei sein wollte. Jahrelang habe ich meine Voreiligkeit bereut. Und jetzt, als lebenserfahrene Ãrztin, endlich daraus gelernt. Vielleicht wird Isa ihr Geheimnis verraten, wenn ich vertrauenerweckend in ihrer Nähe bin. Vielleicht wird Dr. Thalheim den gemeinsamen Morgenkaffee irgendwann als ein kraftspendendes vertrauliches Ritual empfinden, wenn er merkt, dass ich des stillen Einklangs würdig bin und darüber weder klatsche noch prahle. Deshalb habe ich beschlossen, erwachsen abzuwarten, wie die Dinge sich entwickeln und auf »Ich weià etwas«-Bemerkungen jeder Art zu verzichten. So schwer es mir auch fällt.
Bei der Visite bin ich cool. Isa und Dr. Ross fragen nach dem ersten Morgen mit Manuel â Isa aufgeregt flüsternd, Dr. Ross leutselig vor allen â und ich erkläre, dass ich alles bestens im Griff habe. Und bevor jemand merkt, dass ich heute untypisch zurückhaltend bin, wird die Aufmerksamkeit von mir abgelenkt. Denn Jenny kommt wieder zu spät zur Visite â und sie ist maximal geladen. Natürlich: der Laborbotengang.
Dr. Ross macht den Fehler, Jenny wegen der erneuten Verspätung zurechtzuweisen. Und Jenny geht ab wie eine Kanone. JedeSelbstbeherrschung ist dahin. Ich mit meiner unterdrückt brodelnden Neugier bin ein spiegelglatter, eingefrorener See gegen die stürmische Jenny; tsunamimäÃig explodiert die Wasseroberfläche, als ihre Wut überkocht. Es fängt an mit »Ich kann doch nichts dafür, wenn die bescheuerte Schwester aus reiner Schikane â¦Â«, spitzt sich zu mit »Machen Sie doch mal in jeder Mittagspause diese stupide Ochsentour!« und endet mit »Denken Sie, es macht mir SpaÃ, hier jeden Tag einen Extraauftritt hinzulegen?!«.
Ja, ich muss es zugeben: Ich dachte das schon. Und wenn ich mich hier so umsehe, bin ich wohl nicht die Einzige. Jenny verstummt, sie atmet schwer. Alle sehen betroffen zu Boden, bloà keinen Blick auffangen. Wir erwarten das unvermeidliche Donnerwetter, ich spüre, wie Isa neben mir sich regelrecht duckt. Doch Dr. Ross bleibt völlig ungerührt. Sie überhört alle Beleidigungen, antwortet knapp und fast freundlich â und unerbittlich. »Vielen Dank für die umfassende Aufklärung! Ich werde Sie nicht von der Labor-Aufgabe entbinden. Aber eine erneute Verspätung bei der Visite werde ich auch nicht akzeptieren. Sie müssen sich also was einfallen lassen.«
Sie spricht ganz ruhig; Jenny starrt sie an. Wahrscheinlich hat sie noch nie mit einem
Weitere Kostenlose Bücher